Stellenwert von Familien in Deutschland
Wie kinderfreundlich ist Deutschland wirklich?

Leben wir in einem kinderfreundlichen Land, wie oft behauptet? Oder existiert unterschwellig eine eher kinderfeindliche Stimmung? Die Meinungen hierüber sind gespalten. Wir zeigen den Status quo. Plus: Was sich ändern muss und warum es nicht ohne die Väter geht
Wie kinderfreundlich ist Deutschland wirklich?
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In diesem Artikel:
  • Fazit: Kinder sind unsere Zukunft

Family first? Nicht in Deutschland! Dieser Meinung ist jedenfalls die Journalistin und Bloggerin Nathalie Klüver. In ihrem neuen Buch "Deutschland, ein kinderfeindliches Land?" schreibt sie, dass sich Deutschland nur auf den ersten Blick als familien- und kinderfreundliches Land präsentiert — in Wirklichkeit stehen Eltern aber in den meisten Fällen allein auf weiter Flur. Wieso das so ist und was sich alles ändern muss, verrät die Autorin im Interview.

Mit dem Adjektiv "kinderfreundlich" wird viel und oft geworben: Kann man Kinderfreundlichkeit definieren?

Kinderfreundlichkeit ist ein Klima und eine Umgebung, wenn auf die Bedürfnisse der Kinder geachtet wird und nicht nur darauf, dass sich die Erwachsenen wohlfühlen. Dazu gehört ein Eingehen auf Augenhöhe und nicht von oben herab, wie es Erwachsene gerne machen. Kinder mit all ihren typisch kindlichen Eigenarten sind in einer kinderfreundlichen Umgebung willkommen — und zu diesen Eigenarten zählt auch, dass Kinder vorwiegend einen größeren Bewegungsdrang haben als Erwachsene, auch mal lauter reden und lachen.

Ist Deutschland an sich ein kinderfreundliches Land?

Nein. "Deutschland ist ein kinderentwöhntes Land", hat die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt mal gesagt. Und das trifft es ziemlich genau. Familien wurden aus dem öffentlichen Raum verdrängt — so sehr, dass Kinder und ihre Bedürfnisse vielerorts einfach vergessen worden sind. Vieles in unserer Gesellschaft, im öffentlichen Raum, ist auf die Bedürfnisse von Erwachsenen ausgelegt.

Podcast-Tipp: Expertin Nathalie Klüver war auch schon mal Gast bei den "Echten Papas", hier geht's zum Gespräch:

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In welchen Alltagssituationen ist Kinderfeindlichkeit zu spüren?

Eltern begleitet von Anfang an das Gefühl, mit Kindern zu stören oder unangenehm aufzufallen. Viele fangen schon an, sich zu entschuldigen, bevor die Kinder überhaupt etwas gemacht haben oder nehmen übermäßig viel Rücksicht auf andere, etwa indem sie nur zu Zeiten ins Restaurant gehen, wo sonst noch niemand isst. Man merkt diese latente Kinderfeindlichkeit in vielen kleinen Alltagssituationen. In Wartebereichen ohne Spielgelegenheiten, an den hochgezogenen Augenbrauen, wenn Kinder mal etwas lauter sind, an übertriebenen Seufzern oder vorwurfsvollen "Haben Sie Ihr Kind nicht im Griff", wenn das Kleinkind sich im Wutanfall auf dem Boden wälzt. Aber auch an fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeiten von Kindern: Wenn etwa der Schulhof umgestaltet wird, ohne die Schüler zu fragen, was sie sich denn wünschen. Und: An der Benachteiligung von Familien im Steuerrecht oder Rentenrecht. Wieso zum Beispiel sind Windeln mit 19 Prozent Mehrwertsteuer belegt, Trüffel oder Kaffee aber nur mit 7 Prozent? Wieso kann man Schulmaterialien nicht ebenso von der Steuer absetzen wie Fachbücher für die Arbeit?

Worunter leiden Familien am meisten in Deutschland?

Familien leiden nicht nur unter den beschriebenen hochgezogenen Augenbrauen, den fehlenden Spielmöglichkeiten für Kinder, sondern auch unter den finanziellen Benachteiligungen. Alles kostet mehr mit Kindern. Wir Eltern ziehen die Kinder groß, die auch den Kinderlosen einmal die Rente finanzieren werden. Wir leisten also, wenn man so will, einen doppelten Beitrag für den Generationenvertrag: Wir bezahlen die Renten der jetzigen Senioren. Und bezahlen für die zukünftigen Zahler, der jetzigen Arbeitnehmergeneration. Hier fehlt eindeutig ein finanzieller Ausgleich.

Ist "Kinderfeindlichkeit" gleichzusetzen mit "Elternfeindlichkeit"?

Kinderfeindlichkeit ist nicht per se Elternfeindlichkeit, wohl aber Familienfeindlichkeit. Kinderfeindlichkeit umfasst mehr als Elternfeindlichkeit. Aber natürlich ist auch die Elternfeindlichkeit ein Problem in Deutschland. Diese äußert sich besonders in der Arbeitswelt, wo Eltern leider immer noch sehr diskriminiert werden — wie zum Beispiel, wenn Mütter bei Bewerbungen gleich aussortiert werden, denn sie könnten ja krank werden. Oder wenn Meetings auf die Nachmittagsstunden gelegt werden, wo Teilzeitkräfte meist schon zu Hause sind. Und Elternfeindlichkeit äußert sich in der bereits genannten strukturellen Benachteiligung im Rentenrecht.

Was müsste sich alles ändern, um aus Deutschland ein kinderfreundlicheres Land zu machen?

Wir brauchen eine spürbare finanzielle Entlastung für Familien, verbunden mit einer stärkeren Bekämpfung der Kinderarmut. Dann benötigen wir ein Familienwahlrecht oder wenigstens ein allgemeines Wahlrecht ab 16, um die Altersverhältnisse der Wähler zu verschieben, das zurzeit eine deutliche Mehrheit von Älteren hat. Dadurch müssten Politiker in ihren Entscheidungen und Programmen mehr zugunsten von Jüngeren und Familien entscheiden. Wir brauchen eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Denn dann müssen alle politischen Entscheidungen auf ihre Auswirkung auf Kinder überprüft werden und Kinder stärker in Entscheidungen einbezogen werden, die Partizipation wird dadurch gestärkt und verpflichtend. Und es bedarf dringend einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch familienfreundlichere Arbeitsbedingungen und bessere Betreuungsmöglichkeiten. Das hilft im Kampf gegen die Kinderarmut und stärkt die Mütter.

Welchen Beitrag können speziell Väter leisten, um Deutschland kinderfreundlicher zu machen?

Präsenter sein in der Erziehung und dem Familienleben. Sich für die Vereinbarkeit einbringen und Familien so im Arbeitsleben sichtbar machen. Je mehr sich Väter in die Erziehung und das Familienleben einbringen, umso präsenter werden Kinder auch in den Entscheidungen sein. Kinder sollten nicht nur eine Sache der Mütter sein, sondern auch eine Sache der Väter. Wenn es selbstverständlich ist, dass Väter Elternzeit nehmen oder das kranke Kind betreuen, dann werden Mütter auch nicht mehr so stark im Arbeitsleben benachteiligt.

Welches Land ist besonders kinderfreundlich?

Was die Kinderfreundlichkeit, die Familienfreundlichkeit und die Vereinbarung betrifft, sollten wir uns die skandinavischen Länder als Vorbild nehmen. Hier gibt es eine gut ausgebaute Kinderbetreuung, dadurch deutlich mehr Frauen in Führungspositionen und Kinder sind wesentlich präsenter und willkommener im Alltag.

Was wären die Vorteile, wenn Deutschland kinderfreundlicher wäre?

Von einer kinderfreundlichen Gesellschaft profitieren wir alle. Eine kinderfreundlichere Gesellschaft zeichnet sich durch eine bessere Work-Life-Balance aus, denn das Privatleben wird dadurch aufgewertet und bekommt mehr Raum. Ein kinderfreundlicher öffentlicher Raum ist grüner, fußgängerfreundlicher und gewinnt an Aufenthaltsqualität. Kinderfreundliche Gemeinden ziehen Familien an und so wird ein Aussterben ganzer Orte verhindert, die Infrastruktur wird erhalten, Orte bleiben lebendig. Und: Wenn die Politik durch eine Verankerung der Kinderrechte konsequent das Wohl der Kinder in alle Entscheidungen mit einbezieht, dann kann sich die Politik nicht nur auf die nächste Legislaturperiode beschränken, sondern muss weiter in die Zukunft schauen und so auch Probleme anpacken wie den Klimawandel oder das Renten- und Sozialversicherungssystem. Man kann es auch umdrehen: Eine zukunftsfähige, moderne Gesellschaft muss kinderfreundlich sein. Und: Eine kinderfreundliche Gesellschaft orientiert sich an dem Wohl der Schwächeren. Das sorgt für mehr Gerechtigkeit und Rücksichtnahme untereinander. Davon profitieren letztlich wir alle, auch die Älteren.

Fazit: Kinder sind unsere Zukunft

Kinder sind unsere Zukunft — also sollten wir auch ein kinderfreundliches Umfeld schaffen. Die skandinavischen Länder legen darauf großen Wert, kein Wunder, dass sie zu den lebenswertesten Ländern der Welt gehören. Wie es Nathalie Klüvert treffend sagt: "Eine zukunftsfähige, moderne Gesellschaft muss kinderfreundlich sein." Und das haben wir alle in der Hand!