Schluss mit toxischer Männlichkeit
Das kannst du als Vater gegen toxische Männlichkeit tun

Der Begriff "toxische Männlichkeit" stellt die Hälfte der Menschheit unter Generalverdacht – soweit die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Jede Generation hat eine neue Chance, schlechte Verhaltensweisen auszumerzen – und die beginnt schon bei der Kindererziehung
So stärkst du die positiven Seiten deines Sohnes
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In diesem Artikel:
  • Was bedeutet toxische Männlichkeit?
  • Gibt es weitere Beispiele für toxische Männlichkeit?
  • Betrifft toxische Männlichkeit alle Männer?
  • Ein solcher Generalverdacht gegenüber Männern stößt sicher auf Kritik und Ablehnung, oder?
  • Wie erreicht man die vermeintlich harten Jungs – also jene, die eine Auseinandersetzung mit toxischer Männlichkeit am nötigsten hätten?
  • In besagten Workshops geht es ja um Selbstreflexion. Gibt es Aha-Momente, in denen Männer besonders häufig ihre eigene Toxizität erkennen?
  • Auf den ersten Blick könnte ein Mann, der als erfolgreiches Alphatier wahrgenommen wird, glücklich sein. Welche negativen Folgen hat toxische Männlichkeit für ihn?
  • Welche Auswirkungen hat die toxische Männlichkeit auf das Umfeld, zum Beispiel die Partnerschaft?
  • Steht uns toxische Männlichkeit auch bei der Vaterschaft im Weg?
  • Wie können Väter es anders machen und ihre Söhne weniger toxisch erziehen?
  • Gibt es einen positiven Wandel in der Erziehung? Immerhin gilt die Generation der 'Neuen Väter' als zugewandter und näher am Kind.
  • Der Einfluss der Medien auf die toxische Männlichkeit ist groß: Sollte ich als Vater also keine Superhelden-Filme mit meinem Sohn schauen?
  • Gibt es eigentlich auch toxische Weiblichkeit?

"Toxische Männlichkeit betrifft alle Männer", sagt der Braunschweiger Diplom-Pädagoge Sebastian Tippe. "Aber oft ist es ihnen gar nicht bewusst." Damit sich das ändert, hat der Experte ein Buch geschrieben mit dem Titel "Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern" und gibt Workshops zu dem Thema. Im Interview mit Men's Health Dad erklärt er außerdem, wie wir die nächste Generation vor dieser Art des Giftes schützen können und was jeder Vater bei der Erziehung seines Söhnes beachten sollten.

Was bedeutet toxische Männlichkeit?

"Unter toxischer Männlichkeit versteht man problematische Verhaltensweisen, Einstellungen oder auch Denkmuster von Männern gegenüber Frauen, aber auch marginalisierten Menschen, wie zum Beispiel wohnungslosen Menschen oder Menschen mit einer Beeinträchtigung. Das Spektrum reicht von Diskriminierung und Ausgrenzungen bis zu gewalttätigen Übergriffen. Ich unterscheide dabei noch in individuelle und strukturelle toxische Männlichkeit. Für Übergriffe, körperliche Gewalt oder Beleidigungen entscheiden sich Männer bewusst. Es gibt aber auch toxische Männlichkeit, die aus gesellschaftlichen Strukturen heraus entsteht. Zum Beispiel verdienen Frauen bei gleicher Qualifikation immer noch weniger als ihre männlichen Kollegen und haben schlechteree Chancen auf eine Beförderung."

Gibt es weitere Beispiele für toxische Männlichkeit?

"Toxische Männlichkeit ist viele Gesichter. Ein Beispiel ist das Mansplaining. Männer unterbrechen Frauen, um ihnen ungefragt die Welt zu erklären. Auch das bewusste Verschweigen von weiblichen Leistungen gehört dazu, zum Beispiel sind Forscherinnen in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent als ihre männlichen Kollegen. Repeating ist ein ähnliches Phänomen. Männer klauen Kolleginnen ihre Ideen und verschweigen deren Leistung. Ein großes Problem ist der ausgeprägte Konkurrenzgedanke vieler Männer, der dazu führt, dass sie häufiger Einzelkämpfer sind und weniger gut im Team arbeiten. Im beruflichen Kontext wird eine solche männliche Dominanz oft sogar positiv wahrgenommen. Bei Frauen gelten ähnliche Verhaltensmuster eher als negativ. Auch das Missverhältnis von Care-Arbeit zwischen Mann und Frau fällt aus meiner Sicht unter toxische Männlichkeit. Und dann gibt es noch die bewusste Grenzüberschreitung, das Nichtakzeptieren einer Zurückweisung oder das Verschicken von Dickpics. Noch extremere Ausprägungen davon sind auch körperliche oder sexuelle Gewalt gegenüber Frauen."

Betrifft toxische Männlichkeit alle Männer?

"Ja, aus meiner Sicht schon. Männer werden schon als Kind durch bestimmte Männlichkeitsideale geprägt, durch das Elternhaus, die Schule, ihre Freunde oder medial vermittelte Bilder. Mann muss stark sein, sollte möglichst wenig Gefühle zeigen. Auch ausgeprägtes Konkurrenzdenken und eine Ellbogenmentalität werden als positiv männlich gewertet. Sogar Kämpfen gilt noch als typisch männlich. Durch diese Prägung entsteht bei uns allen eine toxische Männlichkeit, auch wenn die sich natürlich in ganz unterschiedlicher Intensität zeigt. Manchmal geht es 'nur' darum, dass man sehr laut auftritt und viel Raum mit seiner Persönlichkeit einnimmt. Und leider sprechen wir auch von Mord oder Vergewaltigung als Folge von toxischer Männlichkeit."

Ein solcher Generalverdacht gegenüber Männern stößt sicher auf Kritik und Ablehnung, oder?

"Ich kenne und verstehe die Ablehnung. Oft entstehen sie aus der männlichen Sozialisation heraus, zum Beispiel wenn es darum geht, die eigene Stellung und Privilegien zu hinterfragen. In diesen Situationen gehen viele Männer erst einmal in eine Verteidigungshaltung und machen dicht. Gleiches gilt bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten. Das ist immens anstrengend und kostet Kraft, gerade wenn ich wirklich Dinge nachhaltig verändern möchte. Gleichzeitig erlebe ich oft, dass sich Männer nach anfänglicher Skepsis auf die Auseinandersetzung mit dem Thema einlassen und mit einem Aha-Erlebnis nach Hause gehen."

Sebastian Tippe
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Sebastian Tippe

Wie erreicht man die vermeintlich harten Jungs – also jene, die eine Auseinandersetzung mit toxischer Männlichkeit am nötigsten hätten?

"Ich versuche so früh wie möglich anzusetzen. Ich gehe für Workshops an Schulen oder in Jugendzentren. Dort erreiche ich viel mehr junge Menschen und kann noch stärker etwas bewegen. Ihre Geschlechterstereotype sind noch nicht so festgefahren. Ihnen kann ich noch mehr Impulse mit auf den Weg geben. Das ist bei meinen offenen Kursen für Erwachsene natürlich schwieriger. Dorthin kommen eher jene, die sich dem Problem schon bewusst sind und an sich arbeiten möchten. Männer, die Frauen als Objekte oder gar als minderwertig wahrnehmen, erreiche ich mit meinen Kursen nur bedingt. Es ist schon wichtig, dass die Männer etwas verändern wollen."

In besagten Workshops geht es ja um Selbstreflexion. Gibt es Aha-Momente, in denen Männer besonders häufig ihre eigene Toxizität erkennen?

"Oft sind es Situationen, in denen die toxische Männlichkeit gar nicht so offensichtlich ist – jedenfalls für uns Männer. Zum Beispiel frage ich die Männer, was sie machen, um sich beim Feiern vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Die Antwort lautet meistens 'Gar nichts'. Und dann lese ich ihnen die teils wirklich verstörenden Antworten von Frauen vor. Wir versuchen, uns in die Perspektive einer Frau hineinzuversetzen, der wir abends in der Stadt begegnen. Schnell kommen die Teilnehmer dann darauf, mal selbstständig die Straßenseite zu wechseln, einfach um den Frauen ein mulmiges Gefühl zu ersparen. Eine spannende Übung für Väter ist der Blick auf die eigene Care-Arbeit und dann der Vergleich mit der Partnerin. Auch dabei gibt es einigen Aha-Momente zu Aufgaben, die vielen Männer sonst eher verborgen bleiben."

Auf den ersten Blick könnte ein Mann, der als erfolgreiches Alphatier wahrgenommen wird, glücklich sein. Welche negativen Folgen hat toxische Männlichkeit für ihn?

"Diese Frage stellen mir die Jugendlichen in meinen Workshops auch häufiger. Die Antwort ist erstaunlich einfach. Männer sterben im Schnitt fünf Jahre früher als Frauen. Einen großen Anteil daran hat unser überholtes Bild von starken Männern, die nie Schwäche zeigen und alles alleine schaffen. Genau diese vermeintlich harten Männer rauchen mehr, trinken häufiger Alkohol, ernähren sich ungesünder und haben mehr Stress im Job. Sie gehen mehr Gefahren ein, zum Beispiel im Straßenverkehr. Sie gehen weniger zu Vorsorgeuntersuchungen und sie begeben sich auch bei physischen Erkrankungen seltener in Therapie. Eine Folge davon ist eine dreimal höhere Suizid-Rate."

Welche Auswirkungen hat die toxische Männlichkeit auf das Umfeld, zum Beispiel die Partnerschaft?

"Wenn ich mich nur mit mir selbst beschäftige und mein Gegenüber nicht ernst nehme, fällt es mir deutlich schwerer eine erfüllte Partnerschaft zu führen. Gleiches gilt übrigens für die Unfähigkeit, offen über die eigenen Gefühle und Vorstellungen zu reden. Das schwächt die Bindung zu meiner Partnerin und steht viel Glück im Leben im Weg. Gleiches gilt für Freunde oder die Familie. Auch hier fällt es Männern oft schwerer, Nähe zu zulassen."

Steht uns toxische Männlichkeit auch bei der Vaterschaft im Weg?

"Ohne Frage. Bei meinen Workshops an Schulen höre ich immer wieder von Jugendlichen, dass ihnen ein präsenter Vater fehlt. In der Woche steht der Job im Mittelpunkt und die Mutter übernimmt die meiste Care-Arbeit. Auch am Wochenende bleibt oft zu wenig Zeit für die Familie, zum Beispiel, weil Fußball oder die Kumpels vorgehen. Am Ende ist der kleine Rest zu wenig für eine vertrauens- und liebevolle Bindung. Unter dem Strich haben viele Väter so keine gute Beziehung zu ihren Kindern, auch weil sie das Kümmern um den eigenen Nachwuchs immer noch als unmännlich empfinden."

Wie können Väter es anders machen und ihre Söhne weniger toxisch erziehen?

"Wir sind als Väter wichtige Vorbilder. Das Beste, was wir also für unsere Söhne machen könnten, ist, mit gutem Beispiel vorangehen. Zum Beispiel können wir genauso Care-Arbeit übernehmen, wie die Mütter und so aufzeigen, dass Kochen, Saubermachen oder ins Bettbringen eben nicht unmännlich ist. Auch über Gefühle zu sprechen und in den Arm zunehmen, ist immens wichtig – also zu fragen 'Warum bist du gerade traurig oder wütend?' und dann auch ernsthaft an einer Antwort interessiert zu sein. So werden Väter zu wichtigen Ansprechpartnern in schwierigen Lebenssituationen und zeigen den Kindern gleichzeitig eine bessere Alternative zur Aggression auf, um mit starken Gefühlen wie Trauer oder Ohnmacht umzugehen."

Gibt es einen positiven Wandel in der Erziehung? Immerhin gilt die Generation der 'Neuen Väter' als zugewandter und näher am Kind.

"Ich glaube, es hat sich in der letzten Zeit viel getan. Alleine, dass wir ein Interview über toxische Männlichkeit führen und sich mehr Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen, ist ein immenser Fortschritt. Und ja, auch bei den 'Neuen Väter' spüre ich ein größeres Bewusstsein für Themen wie Care-Arbeit oder auch dem Umgang mit den eigenen Gefühlen. Gleichzeitig besteht noch viel Luft nach oben – toxische Männlichkeit sollte schließlich kein Filterblasen-Thema sein, sondern geht uns alle an."

Der Einfluss der Medien auf die toxische Männlichkeit ist groß: Sollte ich als Vater also keine Superhelden-Filme mit meinem Sohn schauen?

Immerhin sind darin die meisten Protagonisten Männer, auch Gewalt spielt eine große Rolle.

"Ich halte ein solches Verbot für wenig sinnvoll. Das würde auch an der Lebensrealität der Kinder vorbeigehen. Ich plädiere eher für einen gemeinsamen und reflektierten Konsum. Man sollte eher gemeinsam Superhelden-Filme schauen und anschließend darüber ins Gespräch kommen. Auch bei der Auswahl der Filme und Serien gibt es Spielraum – es gibt schließlich auch Angebote mit Superheldinnen. So verbietet man nichts, sondern schafft Alternativen und bietet eine breite Perspektive an."

Gibt es eigentlich auch toxische Weiblichkeit?

"Es gibt natürlich auch Frauen, die eine Ellbogenmentalität an den Tag legen oder auch männlichen Sexismus verteidigen. Eine wichtige Erklärung dafür ist eine Art von gesellschaftlicher Überlebensstrategie. Toxische Männlichkeit und Weiblichkeit kann man aber nicht gleichsetzen – das ist, als würde in unserer Gesellschaft von einem Rassismus gegenüber 'Weiß-gelesenen' Menschen sprechen. Auch das ist völliger Quatsch und verschweigt die eigentlichen Machtverhältnisse. Denn die Betroffenen in einer männlich-dominierten Gesellschaft sind Mädchen und Frauen."

"Toxische Männlichkeit" ist ein umstrittener Begriff. Man kann dazu stehen, wie man will, letztendlich beschreibt er aber männliche Eigenschaften, die oftmals einer engen Vater-Kind-Bindung im Weg stehen - und das ist das wahre Gift im Leben.