Sexuelle Aufklärung
Wie spreche ich mit meinem Sohn über Sex und Gewalt?

"Beschütze nicht deine Tochter, erziehe deinen Sohn": Dieser Spruch kocht immer dann hoch, wenn #MeToo in den Schlagzeilen ist. Aber in welchem Alter sollte man mit Jungs über sexualisierte Gewalt reden? Und wessen Job ist es? Vielleicht deiner?
Ein Vater erklärt seinem Sohn etwas anhand eines Buches
© Shutterstock.com / Dmytro Zinkevych
In diesem Artikel:
  • Wir müssen dringend über Gewalt und Erziehung sprechen
  • Ist Vergewaltigung ein Thema für Kinder?
  • Was für ein Frauenbild hast du?
  • Wann sollte man Jungs mit Geschlechter- und Gewaltthemen konfrontieren?
  • Wie komme ich als Vater mit meinen Kindern ins Gespräch?
  • Auch falsche Vorbilder führen sexualisierte Gewalt herbei
  • Und wer sagt es jetzt deinem Sohn?
  • Fazit: Erziehe deinen Sohn, erziehe dich selbst

"Ein Drittel aller jungen Männer findet Gewalt gegenüber Frauen okay", musste man in letzter Zeit immer wieder lesen. In einer scheinbar so aufgeklärten Welt wie unserer bewirkt diese eigentlich unglaubliche Erkenntniss tatsächlich Schnappatmung. Wo kam sie her? Die Headline basiert auf einer repräsentativen Umfrage – nicht Studie, wie viele fälschlicherweise behaupteten –, die die Hilfsorganisation Plan International in Auftrag gab. Findige Twitter-User fanden zudem heraus: Die Methodik dieser Umfrage sei hier und da nicht sauber gewesen, die Art der Fragestellung sei intransparent, andere Untersuchungen kämen zu teilweise ganz anderen Ergebnissen, die Medien seien vorschnell auf den Skandalzug aufgesprungen und so weiter. "Puh", könnten wir deshalb rufen und durchatmen. Alles halb so wild?

Wir müssen dringend über Gewalt und Erziehung sprechen

Keine Frage: Medienkritik und das Aufdecken von Erhebungsfehlern wie oben erwähnt sind richtig und wichtig. Bloß: Selbst wenn alles wirklich "halb so wild" wäre und in Wahrheit vielleicht nur 15 Prozent aller Männer zwischen 18 und 35 körperliche Maßregelungen gegenüber Frauen okay findet statt über 30 – ist das Problem dann keines mehr? Der Bielefelder Buchautor und Psychologe und Männerberater Björn Süfke fasst es auf Instagram zusammen: "Ernsthaft jetzt? Wenn XY Prozent der Eltern ihre Kinder schlagen und wir dann von Umfragen lesen, die besagen, XY + 5 Prozent würden ihre Kinder schlagen, haben wir dann zuallererst ein Umfragemethodikproblem oder eins mit Gewalt an Kindern?" Süfke hat natürlich recht: Über Gewalt und Erziehung müssen wir trotzdem sprechen. Nur wie?

Ist Vergewaltigung ein Thema für Kinder?

Die Autorin und Feministin Teresa Bücker hat eine bemerkenswerte Kolumne über diese Problematik geschrieben. Unter der provokanten Überschrift "Ist es radikal, Jungen beizubringen, nicht zu vergewaltigen?" sprach sie unter anderem vom Victim Blaming und Täter-Opfer-Umkehr: Wir dürfen nicht länger Mädchen erklären, wie sie sich zu kleiden, welche Heimwege sie zu nehmen, wie sich sexuell zu geben und nehmen haben. Das Grundprinzip lautet: "Don’t protect your daughter, educate your son". Wir müssen Jungs, auch die noch ganz Unschuldigen, aufklären. Zu Hause als Eltern und im Unterricht – neben den biologischen Prozessen im menschlichen Körper muss es in der schulischen Sexualkunde unbedingt auch um den angemessenen physischen und psychischen Umgang mit Körpern gehen. Damit sie nicht zu Tätern werden und in der Folge Frauen, zumindest theoretisch, gar nicht länger beschützt werden müssen. Dabei helfe es nicht, ihnen gebetsmühlenartig einzubläuen, was sie dürften und was nicht und wie sie mit Frauen (oder überhaupt anderen Menschen) umzugehen haben. Sie müssten vielmehr lernen, in sich selbst hineinzuhören: Wer bin ich? Wer will ich sein? Was sind meine Bedürfnisse? Wie äußere ich die in einem Umfeld, das von mir verlangt, eine ganz andere Art Mann zu sein, als ich will?

Was für ein Frauenbild hast du?

Dass dieses Umfeld schon Kindern und Teenagern schadet und aus ihnen eventuell die Männer macht, die Antworten wie die obigen geben, ist keine Neuigkeit. Im Jahr 2018 etwa wollte dieselbe Hilfsorganisation bereits in einer jüngeren Erhebungsgruppe ähnlich konservative Selbst- und Rollenbilder festgestellt haben. Damals hieß es unter anderem, wie auch von Bücker in ihrer Kolumne zitiert: "Sieben von zehn Jungen nehmen Druck von Eltern, Lehrer:innen, Freund:innen wahr, körperlich stark zu sein und emotional tough. Ein Drittel gab an, dass von ihnen erwartet werde, ihre Gefühle zu verstecken, wenn sie sich traurig oder wütend fühlten. Mehr als 40 Prozent meinten, bei Wut sei es die normale Reaktion, sich aggressiv oder gewalttätig zu verhalten. 44 Prozent beschrieben, bereit sein zu sollen, jemanden zu schlagen, der sie provozierte. Einer von drei Jungen empfand den Druck, sich dominant zu verhalten – eine Angabe, die unter anderem damit korrelierte, in Jungengruppen sexuelle Witze und Bemerkungen über Mädchen zu machen. Nahezu die Hälfte der Jungen hatte zudem zugehört, als ihr Vater oder ein anderes männliches Familienmitglied sexuell anzüglich über Frauen redeten."

Die Ursache hinter solchen Symptomen von mangelndem Selbstwertgefühl bis hin zu dummen Sprüchen, Prahlereien und Schwanzvergleichen liegt in der toxischen Männlichkeit. Die ist nicht nur ein individuelles, sondern ein strukturelles Problem: Sei stark! Sei erfolgreich! Werde mächtig! Das wird Jungen im Patriarchat oft unbewusst von klein auf gepredigt. Kein Wunder, dass einige es auch werden wollen und glauben, sich nehmen zu müssen oder gar dürfen, was ihnen zustehe – ohne zu große Rücksicht auf Verluste.

Wann sollte man Jungs mit Geschlechter- und Gewaltthemen konfrontieren?

Wir haben den bereits zitierten Psychologen Süfke direkt gefragt. Sein Plädoyer an Bildungseinrichtungen lautet: Bietet frühkindliche Seminare an! Reflektiert Geschlechterstereotypen! Mit Drittklässler:innen könne man bereits gut darüber reden, wir würden Kinder lediglich noch immer zu oft unterschätzen. Sie gingen sehr pragmatisch vor. Im Vorschulalter, aber auch in Grundschulen, sieht Buchautor Süfke ("Männerseelen") das Personal in der Pflicht, Fortbildungen wahrzunehmen, auch sie müssten sensibilisiert werden. Und Eltern?

Wie komme ich als Vater mit meinen Kindern ins Gespräch?

"Anders als Fachpersonal in Bildungseinrichtungen brauchen Eltern kein Programm", sagt Süfke auch aus eigener Erfahrung als Vater zweier Teenager, "die brauchen lediglich eine Sensibilität". Dann nämlich ergäben sich im Alltag tausende Gelegenheiten, über Geschlechterrollen und Erwartungshaltungen und Wohlbefinden zu sprechen, was er übrigens als gar kein Problem empfindet, "Physik finde ich schwerer!" Sein Tipp mit kleinem Augenzwinkern: "Vielleicht brauchen wir auch verpflichtende Geburtsvorbereitungskurse für Eltern, damit die sich mit diesen Themen auch beschäftigen. Sie erhalten dann einen Elternführerschein für Genderthemen!"

Auch falsche Vorbilder führen sexualisierte Gewalt herbei

Ein brandaktuelles Beispiel dafür, wo fehlgeleitete sexuelle Machtgefälle und ein männliches Überlegenheitsgefühl hinführen können, ist der Fall Till Lindemann. Die Vorwürfe lauten, der Rammstein-Sänger habe sich junge Frauen nach bestimmten Schemata casten lassen, um bei ihnen vor oder nach Konzerten sexuelle Handlungen durchzuführen. Selbst für den nach allen bisherigen Erkenntnissen unwahrscheinlichen Fall, dass all diese mutmaßlichen Vorfälle einvernehmlich geschehen wären und Lindemann jedes Mal freundlich gefragt hätte: Was ist das bitte für ein Frauenbild? Der "Spiegel" berichtet in seiner Recherche, die Gruppe der Frauen, die Lindemann zugeführt worden seien, hätten mitwissende Crewmitglieder "Schlampenparade" genannt – und die Frauen, die von Lindemann keinen Daumen hoch für seine Endauswahl erhielten, hätten auf der normalen Aftershow-Party zum "Resteficken" für andere männliche Raubtiere herhalten sollen.

Warum wir diesen Fall, der gewiss kein Einzelfall ist, sondern lediglich ein sehr prominenter, anführen? Er eignet sich erstens sehr gut dafür, das Konzept "Don’t protect your daughter, educate your son" zu illustrieren. Bestürzend schnell wurden in Kommentarspalten Stimmen laut, die sinngemäß riefen: "Denken diese Mädchen, auf solchen Partys wird Halma gespielt?" Sie seien im Grunde also selbst schuld und wollten es doch irgendwie auch. Das ist falsch, siehe Täter-Opfer-Umkehr. Zweitens ist hier ein konkreter Hebel auszumachen, über den junge Menschen – ob von ihren Eltern oder sonst wem – erreicht beziehungsweise sensibilisiert werden können: Warum nicht jeder Rockstar ein cooler Mensch sein muss? Darum! Warum Sprache – siehe Rammsteins Texte, siehe Lindemanns Vergewaltigungsfantasie-Gedichte – mitunter doch viel über mögliches Handeln aussagt oder das Denken der Rezipient:innen formt? Darum! Und falls die Kids Rammstein ohnehin Kacke finden: Das gleiche Spiel lässt sich auch mit diversen Rapstars, ihren Lyrics und ihrem Gepose spielen. Wichtig ist dabei, was wir aus unserer eigenen Kindheit kennen: Eltern tun gut daran, nicht von oben herab zu argumentieren und bestimmte Acts und Tracks zu verfluchen. Sondern mit ihren Kindern ernsthaft interessiert darüber zu reden, was sie daran gut finden, was eventuell Kunst ist und was nicht.

Und wer sagt es jetzt deinem Sohn?

Natürlich wird nicht jeder Teenager, der Rammstein pumpt, zum gewalttätigen Sexisten. So wie auch nicht jeder, der Ballerspiele zockt, zum Amokläufer wird. Der Scheiß kann auch ein Ventil sein, Menschen sind bisweilen schlau genug zu unterscheiden. Der Punkt ist der der Reflektion: Ihr wollt Alkohol trinken? Macht euch klar, dass ihr euch unter dessen Einfluss selbst über- und gewisse Signale falsch einschätzt. Ihr glotzt Pornos? Seid euch bewusst, dass Sex nicht Penetration und Machtausübung bedeutet und sich für beide Seiten gut anfühlen muss. Wie genau dies geschehen kann, darüber lohnt es sich als Jugendlicher mit dem Gegenüber zu reden. Wer all dies seinen (nicht mehr ganz so jungen) Kindern vermittelt, so Bücker, lerne als Erwachsene bei dieser Art des Aufklärungsunterrichtes wahrscheinlich selbst noch einiges dazu.

Väter spielen dabei übrigens gar keine so kleine Rolle: Die US-Autorin Peggy Orenstein befand in ihrem Buch "Boys & Sex: Young Men on Hookups, Love, Porn, Consent, and Navigating the New Masculinity", dass Jungen – die in der Regel zwar wissen, dass Pornografie nicht der Realität ihrer eigenen Sexualität entsprechen wird, von dessen Konsum trotzdem beeinflusst werden – durchaus mehr Orientierung suchten, und insbesondere Gespräche mit väterlichen Bezugspersonen vermissten. Untersuchungen dahin gehend, dass Kinder ohne Väter eher gewalttätig gegenüber Frauen werden, existieren zwar, sind aber mit Vorsicht zu genießen. Schließlich hieße das im Umkehrschluss, dass die alleinerziehende Mutter sich doppelt schuldig fühlen könnte, falls der Kleine mal ein großes Arschloch wird.

Fazit: Erziehe deinen Sohn, erziehe dich selbst

Solange unsere Söhne nicht ausreichend "educated" sind, tun wir als Eltern und Gesellschaft erstens immer noch gut daran, unsere Töchter zu schützen, so schlimm – und hoffentlich eines Tages unnötig – das ist. Und zweitens, das ist auch Männerberater Süfke ein wichtiges Anliegen, jene Töchter gleichsam zu erziehen, also für Gewalt und den Umgang mit ihrem und anderen Geschlechtern und Körpern sensibilisieren. Denn Frauen seien längst nicht durchgängig emanzipiert, wie die Umfrage von Plan International ebenfalls zeige: Während ein Drittel aller Männer es akzeptabel finde, wenn ihnen beim Streit mit der Partnerin "gelegentlich die Hand ausrutscht", stimmten 14 Prozent der Frauen dieser Aussage ebenfalls zu.