Die Lichter gehen an, Alexis betritt die Manege, hinter ihm zwei Tiger. Später kommen fünf Löwendamen dazu. Alle Augen sind auf den Nachwuchs-Dompteur im Circus Krone in München gerichtet. Die Raubtiere fauchen den 17-Jährigen an, schwingen ihre riesigen Tatzen nach ihm, machen Männchen. Mit Peitsche und einem dünnen Bambusstock versucht der Jugendliche, die Natur in ihnen zu zähmen.
Ein Metallkäfig schützt die Zuschauer vor den Raubtieren – der einzige Schutz von Alexis ist sein Vater Martin Lacey. Der erfahrene Zirkusdirektor steht ein paar Meter entfernt im Dunkeln des Zelts. Von den Zuschauerrängen aus ist er nicht zu sehen, doch von hier kann er eingreifen, sollte der schlimmste Fall eintreten – wenn die Raubtiere seinen Sohn attackieren. Das ist zum Glück bisher nicht passiert – wobei der Jugendliche erst seit Kurzem in der Manege steht. Erst in der vergangenen Wintersaison feierte Alexis sein Debüt als Dompteur beim Circus Krone seiner Familie. Da war er noch 16. Mittlerweile hat er schon einige Shows gespielt. Und er liebt es.
Wie der Vater, so der Sohn
"Ich hatte nie den Plan, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten", sagt Alexis nach einer Vorstellung in München. Dabei hatte er bereits als kleiner Junge seinem Vater bei der Arbeit mit den Löwen und Tigern zugesehen. "Ich bin schon mein ganzes Leben lang dabei. Als Kind habe ich mit den Löwenbabys gespielt und gekuschelt." Aufpassen musste man nur auf die Krallen, erinnert er sich. "Als ich älter wurde, habe ich mich mehr für Sport interessiert. Doch dann habe ich immer mehr darüber nachgedacht, auch als Tierlehrer zu arbeiten", sagt er. Vor zwei Jahren habe er schließlich eine Entscheidung getroffen: Ich will mit den Raubtieren arbeiten. "Ich bin einfach fasziniert von den Tieren."

Der erfahrene Raubtierdompteur Martin Lacey vom Circus Krone geht mit einem seiner Löwen auf Tuchfühlung
Mit seinem Berufswunsch wandte er sich an seine Eltern. Die erste Reaktion seines Vaters: Das will ich nicht. "Das kam für uns erst gar nicht infrage. Der Job ist einfach zu gefährlich", sagt Lacey. Er wollte eigentlich, dass sein Sohn das Büro des Zirkus übernimmt oder die Logistik leitet. Egal, ob man Löwendompteur oder Akrobat ist: Die Arbeit im Zirkus sei immer gefährlich, sagt Lacey. Er muss es wissen: Der 48-Jährige gilt als einer der erfahrensten Raubtiertrainer der Welt. Mit 17 Jahren stand er zum ersten Mal in der Manege. So wie nun sein Sohn Alexis. "Es ist normal, dass man in Zirkusfamilien schon früh anfängt, mitzuarbeiten", sagt Lacey. Doch einfach in die Fußstapfen der Eltern oder Großeltern zu treten, reiche nicht aus. "Man muss die Arbeit mit den Tieren lieben. Ohne Gefühl geht es nicht."
Ein lebensgefährlicher Job
Vor fast 25 Jahren kam der gebürtige Brite zum weltberühmten Circus Krone nach München. Auch sein Vater war Zirkusdirektor, seine Mutter Tiertrainerin. Circus Krone gründete sich vor rund 120 Jahren (die ganze Geschichte kannst du in diesem Buch nachlesen) – er ist heute der größte reisende Zirkus der Welt. 240 fest angestellte Mitarbeiter beschäftigt er, zu Spitzenzeiten seien es sogar 600, sagt der Tierlehrer, der den Betrieb zusammen mit seiner Frau Jana Mandana Lacey-Krone leitet. Sie übernahm 2017 das Unternehmen von ihrer Adoptivmutter und tritt mit ihren Dressurpferden in der Manege auf.
Das aktuelle Programm, mit dem der Zirkus derzeit durch Deutschland tourt, zeigt Akrobaten, Musikeinlagen, Clowns, Tanzshows und Dressurpferde. Der Höhepunkt der Show ist jedoch der Käfig mit den Löwen und Tigern. Mehr als 20 Raubkatzen sind mit auf Tour, sie wurden in den Ställen in München geboren. Die Zirkusfamilie verbringt viel Zeit mit den Tieren: Pflege, Fütterung, Training. "Man muss die Tiere lesen können, eine Verbindung zu ihnen aufbauen", so der Tiertrainer. Er sei nicht der Chef in der Hierarchie der Löwen, sondern ein schräger Freund des Chefs. Deshalb sei er auch nicht in Rudelkämpfe involviert – was die Arbeit mit den Raubkatzen sicherer mache.
Trotz des Trainings und aller Sicherheitsmaßnahmen, das Risiko eines Angriffs bleibt bestehen. Das hat Lacey bereits selbst erfahren müssen: Einmal rutschte er in der Manege aus und stieß gegen einen Löwen. Der habe sich erschrocken, erzählt er, seinen Kopf gedreht – und zugebissen. Der Dompteur wurde an der Nase und am Kinn verletzt, die Narbe versteckt er unter seinem Bart.
Erlauben oder verbieten?
Lacey hat am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich die Arbeit mit den Löwen und Tigern ist. Wie kann er seinen eigenen Sohn dieser Gefahr aussetzen? "Wir haben lange darüber nachgedacht, ob Alexis das machen soll", sagt der dreifache Vater. "Es ist wirklich gefährlich: Du kannst einen Löwen nicht einfach stoppen, wenn er dich angreift." Doch er habe absolutes Vertrauen in seinen Sohn. "Alexis ist ein guter Junge, er hat Disziplin und steht morgens um 7 Uhr im Stall." Er nahm immer öfter am Training mit den Raubkatzen teil; das Direktorenpaar ließ ihren Sohn schließlich in die Manege – zusammen mit den gefährlichen Wildkatzen. Es wäre auch schwierig, seinem Sohn einen Weg zu versperren, den Lacey selbst einst eingeschlagen hat. "Du hast es ja auch so gemacht", sagt Alexis.

Vater und Sohn: Martin und Alexis Lacey gemeinsam in der Manege
Irgendwann gerät jeder Vater in die Situation, dem eigenen Kind etwas erlauben zu müssen, das gefährlich sein kann. Sei es der Motorradführerschein, Alkohol auf einer Party oder eine Reise nach Südostasien: Man will dem Kind wichtige Erfahrungen ermöglichen, gleichzeitig möchte man jede Gefahr von ihm abwenden. Martin Lacey ist nahezu täglich mit diesem familiären Drahtseilakt konfrontiert, oft spielt die Familie mehrere Shows am Tag. "Viele Freunde und Bekannte haben gesagt, dass ich so stolz sein kann, dass mein Sohn das machen will", sagt er. Doch einige Verwandte seien nicht glücklich damit – weil sie wüssten, wie gefährlich die Arbeit mit den Tieren sei. Er finde aber nicht, dass er seine Pflicht als Vater verletze, sein Kind vor gefährlichen Situationen zu schützen. "Ich lasse ihn mit den Tieren nicht alleine. Und ich vertraue auch meinen Löwen und Tigern."
Angst nein, Respekt ja
Er stehe immer nur ein paar Meter von seinem Sohn entfernt, sagt Lacey. "Ich bin da." Während der Vorstellung lasse er seinen Sohn und die Tiere nicht aus den Augen. "Ich bin voll konzentriert, beobachte die Bewegungen von Alexis und schaue, wie die Tiere reagieren. Was macht der Löwe? Wie ist die Stellung seines Schwanzes? Ich will nicht, dass Alexis auch nur einen Kratzer abbekommt." Für Angst habe er in diesen Momenten keine Zeit – ein bisschen Angst zu haben, sei jedoch normal, sagt er.
Und was würde er tun, wenn einer der Löwen oder Tiger seinen Sohn angreifen würde? "Das wird nicht passieren. Wir sind Profis", sagt Lacey. Im Ernstfall würde er aber dazwischengehen und den Namen des Tiers rufen. "Die Tiere reagieren stark auf meine Stimme. Sie würden sich zu mir umdrehen und von Alexis ablassen." Es gebe auch einen speziellen Feuerlöscher, der immer neben der Bühne stehe. Im Falle eines Angriffs würde er die Raubtiere abhalten. "Aber in 25 Jahren habe ich den nie benutzen müssen", sagt Lacey.
Wenn er in der Manege steht, habe er keine Angst vor den Tieren, sagt Alexis. Aber Respekt sei schon dabei. "Ein bisschen nervös ist man schon, aber man muss cool bleiben. Wenn du Angst hast oder dich nicht konzentrierst, werden die Tiere auch nervös", sagt der Nachwuchs-Tiertrainer.
Die gemeinsame Arbeit verbindet
Solange Alexis mache, was er sage, vertraue er ihm auch, sagt sein Vater. "Ich bin sehr streng mit ihm. Denn wenn er einen Fehler macht, kann das schlimme Folgen haben." Pünktlichkeit und Verlässlichkeit sind dem Vater wichtig. "Ich gebe ihm jeden Tag Tipps. Man muss die Körpersprache des Tiers verstehen: Hat das Tier Schmerzen? Ist es aufgeregt? Jede noch so kleine Bewegung sagt etwas über das Tier aus. Gerade am Anfang war es wichtig für Alexis, dass er das versteht." Für den Jugendlichen ist es in Ordnung, dass sein Vater streng zu ihm ist. "Es ist eben sehr gefährlich", sagt er.
Trotzdem sei ihre Beziehung sehr gut, so der Sohn. "Es ist schön, dass wir jetzt so viel Zeit miteinander verbringen." Das war nicht immer so: Die Leitung des Betriebs, die Planung der Touren, der Auf- und Abbau der Zirkuszelte sowie die Arbeit mit den Raubtieren haben den Familienvater stark beansprucht. "Ich war nicht der beste Vater, weil ich wegen der Tiere oft keine Zeit für meine Familie hatte", sagt Lacey. Bei den Geburtstagen seiner Kinder habe er oft gefehlt. "Alexis ist eher ein Mama-Kind. Aber jetzt kommen wir uns wegen der Arbeit sehr nah. Es macht mich glücklich, dass wir gemeinsame Zeit nachholen."
Fazit: Manege frei für die nächste Generation
Mittlerweile habe Alexis auf Tour seinen eigenen Wohnwagen, er übernehme Verantwortung und kümmere sich um wichtige Aufgaben, so der Vater. "Er verbringt viel Zeit mit den Tieren und nimmt mir so viel Arbeit ab." Alexis sagt, dass er sich nun auch vorstellen könne, später einmal den Familienbetrieb zu übernehmen. Ziemlich reif für einen 17-Jährigen. "Vielleicht sieht das von außen nicht so aus, aber eigentlich bin ich ein ganz normaler Jugendlicher." Sein Sohn sei jetzt ein junger Mann, sagt Lacey. Das einzusehen, gehört auch zur Vaterschaft.