Was macht die Bundeswehr, wenn ein deutscher Soldat abnehmen will? Sie hilft ihm dabei
Was macht die Bundeswehr, wenn ein deutscher Soldat abnehmen will? Sie hilft ihm dabei
Der deutsche Soldat rennt. Sein Ohr blutet. Er blickt nicht nach hinten, weil er weiß, dann wird er stolpern. Der Boden rast unter ihm dahin. Der Soldat läuft so schnell er nur kann, aber er muss noch schneller rennen.Der Schweiß tropft nicht, er rinnt nicht, er spritzt ihm aus den Poren.
Als es zu viel wird, als der Körper nein sagt, als der Blick seine Augen für einen Moment verlässt, kreischen Frauenstimmen: „Nicht aufgeben jetzt, Herr Kerk, nur noch ein bisschen, los! Das schaffen Sie!“ Tatsächlich schafft er noch ein paar Schritte, dann zählt eine der Frauenstimmen von fünf herunter –„... vier, drei, zwei, eins ...“ – und das Laufband wird auf Gehtempo gestellt.
Mit einem letzten Pieks entnimmt eine der medizinisch-technischen Assistentinnen noch eine weitere Blutprobe aus dem Ohr, dann ist die Leistungsdiagnose beendet. Michael Kerk (38) ist angekommen.
Als die Waage den Notruf anzeigt, ist Ende: Im Jahre 1998 wiegt Hauptfeldwebel Michael Kerk 112 Kilo und will einen Schlussstrich ziehen. Er will alles ändern – besser essen, sich mehr bewegen, gesünder leben. Damals ist er losgelaufen. Im Alleingang trainiert er für den Münster-Marathon, läuft sich 18 Kilo runter, bleibt in Münster unter 4:30 Stunden.
Aber es ist eine Ochsentour, er hat zu schnell zu viel gewollt. Danach ist der Wille nicht mehr stark genug, die Kilos kommen wieder. Bald ist er wieder bei 99 Kilo, die magische 100 winkt aus nicht mehr allzu großer Ferne.
Er meldet sich bei den Experten in Warendorf und wird fortan beim Abnehmen begleitet. Auf dem Laufband hat er gerade eine Leistungsdiagnose absolviert, auf deren Resultaten er sein Training für den nächsten Marathon aufbauen will.
In der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf wird dem Übergewicht der Krieg erklärt
Kein Bild von einem Soldaten
In der Sportschule der Bundeswehr im westfälischen Warendorf trainieren Olympia-Athleten, machen Sportgruppenleiter ihre Sportgruppenleiterscheine – und übergewichtige Soldaten nehmen den Kampf gegen die Kilos auf.
Das Bild vom ranken, schlanken Soldaten ist ein Trugbild. Denn Soldaten sind auch nur Menschen, und Menschen haben (Gewichts-) Probleme – unter den Angehörigen der Streitkräfte sind es geschätzte 15 000. Deswegen haben die Sportmediziner der Bundeswehr im Jahr 2001 das Adipositas-Programm aufgelegt, in dem die Soldaten lernen, ihre Ernährung umzustellen und Freude am Sport zu entwickeln.
Zunächst werden ihre physiologischen Grundlagen gecheckt. „Wir wollen verhindern, dass sich die Männer zu viel zumuten, möchten ihr Verletzungsrisiko minimieren und Herz-Kreislauf-Probleme feststellen“, sagt Dr. Andreas Lison, der als Orthopäde die Teilnehmer des Programms betreut. „Dabei haben wir es oft mit Schäden zu tun, die durch das Übergewicht bereits entstanden sind.“ Zu viel Gewicht geht auf die Knochen, schadet dem Kreislauf. Für viele der Soldaten sind das völlig neue Erkenntnisse.
Nach der Erstuntersuchung werden die Teilnehmer alle 3 Monate zu Kontrollterminen eingeladen. Wer im Sinne des Programms mitzieht, wird zu einem 2-wöchigen Lehrgang eingeladen. Der wird 2-mal im Jahr für jeweils 25 Soldaten abgehalten und dauert 2 Wochen. Nicht jeder wird eingeladen, es kommen nur jene mit guter Prognose. Denn der Lehrgang soll nicht nur denen helfen, die dort sind.
„Die Teilnehmer sollen als Mediatoren andere mitziehen“, sagt Dr. Johannes Hutsteiner, Leiter des Sportmedizinischen Instituts der Bundeswehr. „Die Teilnehmer sollen Erlerntes an andere Übergewichtige in ihren Stammeinheiten weitergeben, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.“ Wer mitmacht, ist freigestellt, die Teilnahme gilt als Dienstzeit. Doch alle Ärzte betonen: Der Lehrgang ist kein Spaß!
Wenn am Tage 52 Grad Celsius vorherrschen, bleibt nichts anderes übrig als fünf Uhr morgens zu trainieren
Warendorf, Westfalen, Oktober 2003: Eine seltsame Karawane setzt sich in Gang. 25 Soldaten der Bundeswehr, alle sichtbar übergewichtig, kommen auf Inlineskates in Bewegung. Um nicht umzufallen – aber auch, um keine Ausrede zu haben –, halten Sie sich an Einkaufswagen fest, die sie vor sich herschieben.
Vorsichtig rollen sie hintereinander her, eine Art schwere Infanterie. Michael Kerk ist hier mit seinen knapp 100 Kilo noch einer der Schlankeren. Die meisten von ihnen haben seit ihrer Kindheit nicht mehr auf Rollschuhen gestanden, einige noch nie. Keiner von ihnen hätte gedacht, dass ihm das jemals wieder möglich wäre.
Der Lehrgang an der Sportschule führt die schweren Streitkräfte wieder an den Sport heran. Jeden Tag 4 Stunden Sport: schwimmen, Ballspiele, laufen und Rad fahren. Hier werden Grenzen entdeckt. Einer, den sie Fregatte nennen – er ist Fregattenkapitän bei der Marine –, wiegt an die 150 Kilo. Er kommt anfangs kaum aufs Fahrrad. Als er es schließlich schafft, sieht es aus, als säße er auf einem Kinderfahrrad. Am Ende des 14-tägigen Lehrgangs stehen alle wieder sicher auf den Rollen, einige kaufen sich sogar eigene Skates.
Die Ärzte im Sportmedizinischen Institut in Warendorf gehen in bestechender Direktheit vor. Zunächst machen Sie den Abnehmwilligen klar, dass es nicht nur um Schönheitskorrekturen geht, sondern dass ihre Gesundheit akut gefährdet ist.
Dann zeigen sie den schockierten Soldaten Wege aus der Krise. „Alle werden an den Sport und an eine gesunde Ernährung herangeführt“, so Dr. Jens Hinder, der gerade bei Michael Kerk die Leistungsdiagnose durchgeführt hat. „Wir können keinen zwingen, das hier Gelernte fortzusetzen. Aber es gibt Beispiele, wo es gelungen ist, den Keim zu pflanzen, Eigenmotivation aufzubauen." Er klopft Kerk auf die Schulter und zeigt ihm den Daumen hoch. Seine Motivation stimmt.
Termes, Usbekistan, Juni 2005. Am Tage hat die Luft 52 Grad, sie ist so heiß, dass sie im Rachen brennt – und das bereits morgens um sieben. Hauptfeldwebel Michael Kerk ist als Logistik-Experte auf dem Stützpunkt der Bundeswehr nahe der afghanischen Grenze pausenlos damit beschäftigt, die Versorgung seiner Kameraden sicherzustellen.
Eigentlich hat er jede Menge zu tun – und jede Menge Ausreden, um das Marathontraining ausfallen zu lassen. Aber die Saat ist gesät, der Keim gepflanzt. Er will alles ändern, und dazu gehört auch, dass Ausreden jetzt nicht mehr gelten. Gar keine Ausreden. Also sucht er nach einer Lösung.
Er findet sie frühmorgens, am Rollfeld der Luftwaffe. Sein Vorgesetzter, ein Offizier und Triathlet, läuft um fünf Uhr morgens dreimal um das Rollfeld, eine Runde hat knapp vier Kilometer. Michael Kerk läuft mit. Drei Morgen der Woche um fünf Uhr, 12 Kilometer. Die Saat ist aufgegangen. Michael Kerk ist bei 93 Kilo angelangt, er trainiert jetzt für einen weiteren Marathon und hat sein Ziel, die 85 Kilo, fest im Blick.
Lesen Sie hier mehr über das Drama vom Vater und dem Kinderrad
Die Frage nach der Toilette beantwortet Ole Franke mit einem Fingerzeig. „Die blaue Tür, neben der Treppe – aber das ist eine Falle“, sagt er und lacht. Dann erklärt er: „Da bin ich früher nicht durchgekommen.“ Die Tür ist mehr als 60 Zentimeter breit, und Ole Franke beschreibt, wie er früher versucht hat, seitlich mit eingezogenem Bauch durchzukommen. „Keine Chance. Bin immer hängen geblieben.“
Franke (42) arbeitet im Programmierzentrum der Luftwaffe im rheinland-pfälzischen Birken-felde. Er erzählt die Geschichte vom Computertomografen. Damals sollte er für eine Untersuchung in die Röhre geschoben werden – und passte zunächst nicht hinein. „Wenn das so weitergegangen wäre, hätte ich auf solche Untersuchungen bald verzichten können, damit wäre Schluss gewesen.“
Kerk knufft seinen Kameraden in den Arm und grinst. „Dir wäre immer noch der Elbtunnel geblieben.“ Beide prusten los, hauen sich auf die Schultern. Heute kann Franke über derartige Witze lachen. Er wiegt jetzt 46 Kilo weniger und tritt 4,2 Watt Maximalleistung auf dem Ergometer.
Namborn im Saarland, August 2003. Heute bringt der Papa der Kleinen das Radfahren bei. Die Tochter von Ole Franke sitzt auf ihrem bunten Kinderrad und ist ganz aufgeregt, ihr kleines Herz klopft bis in ihren Hals. Der Vater schiebt sie an, die Kleine quiekt, es geht los – aber es geht nicht weit.
Schon nach wenigen Schritten, die Franke neben seiner juchzenden Kleinen hergelaufen ist, kommt er völlig außer Atem. Jetzt schlägt dem Papa das Herz bis zum Hals, schwindelig ist ihm, er versteht das alles nicht – aber er weiß, er muss etwas ändern. Noch in jenem Sommer spricht er bei den Sportmedizinern in Warendorf vor.
„Da haben sie mir hier die Karten gelegt“, sagt Franke heute. Trümpfe waren nicht dabei: Der Ausgangs-BMI für das Adipositas-Programm liegt bei 27. Als Ole Franke das erste Mal in der Sportschule gecheckt wird, liegt seiner bei 44. Er bringt 147,3 Kilo auf die Waage, tritt auf dem Ergometer 1,8 Watt pro Kilo Körpergewicht Maximalleistung. Ob das viel ist? „Zu wenig“, sagt Andreas Lison. „Das ist nur unwesentlich mehr als ein Toter.“ Radfahren war nie sein Sport, sagt Franke: „Wenn es irgendwo bergauf ging, habe ich immer abgewunken. Nee, bergauf fahren, ich, niemals! Quälerei!“
Dreimal am Tag Pommes und abends um 22 Uhr noch einmal Pizza. Essgewohnheiten unserer Soldaten
In den Ernährungskursen des Adipositas-Programms gibt es keine Zaubertricks zu lernen oder fancy Kochrezepte à la Jamie Oliver. „Das hätte ja keinen Sinn“, so Dr. Guido Veile, in Warendorf zuständig für die Ernährungsschulung. „Für diese Soldaten gibt es die gleiche Truppenverpflegung wie für die anderen auch. Da wird für niemanden extra gekocht.“ Also lernen die rundlichen Rekruten, sich für die gesünderen, weniger fettigen Speisen zu entscheiden. Das Richtige auszuwählen und miteinander zu kombinieren. Reis statt Kartoffeln, Pute statt Schwein.
Mittlerweile gibt es in den meisten Kantinen eine Salatbar, in einigen sogar ein Fitness-Menü. In der Sportschule stehen heute zwei Gerichte zur Auswahl: Schweinebraten mit Kartoffeln, Gemüse und Salat oder Nasigoreng. Ole Franke nimmt nur ein Schälchen gedünstetes Gemüse und bedient sich dann an der Salatbar.
Michael Kerk nimmt das Nasigoreng. Früher wären beide nach nebenan gegangen, in den Heimbetrieb, und hätten sich dort Currywurst mit Pommes einverleibt. Einen solchen Betrieb – ein von Privatleuten betriebenes Restaurant – gibt es auf beinahe jedem Kasernengelände. Viele der Soldaten geraten dort in einen Kalorien-Hinterhalt. „Ich kannte einige Kameraden, die haben dreimal am Tag im Heimbetrieb gegessen und sich dann abends um 22 Uhr noch das Pizzataxi auf die Stube bestellt“, erzählt Michael Kerk. Ole Franke nickt dabei stumm, ein wissendes Lächeln auf seinem Gesicht.
Das Nasigoreng sieht aus wie das von Iglo, das Mama früher aufgewärmt hat, wenn sie keinen Bock aufs Kochen hatte. Es schmeckt aber ganz gut. „Im Ausland ist das Essen meist besser“, sagt Kerk. „Nichts verdirbt die Stimmung im Camp mehr als eine miese Küche.“ Die Ansprüche bei Auslandseinsätzen sind hoch – auch an die Köche. In großen Camps gibt es neben gutem Essen sogar ein Fitness-Zelt mit Gewichten, Crosstrainern und gelegentlich auch Laufbändern.
Bei einem sechs-monatigen Aufenthalt in Skopje, Mazedonien, hat sich Michael Kerk als Logistik-Fachmann sogar selbst darum gekümmert, dass Sportgeräte rangeschafft werden. „Aber längst nicht alle nutzen diesen Kram“, sagt er mit einem Grinsen. „Einige stapeln lieber die Bierdosen im Betreuungszelt, um sich damit die Zeit zu vertreiben. Kannst halt niemanden zwingen.“
Jeder Soldat kommt freiwillig nach Warendorf. Es gibt keinen Befehl zum Abnehmen. Es gibt den so genannten Sportbefehl, der Soldaten dazu antreiben soll, sich körperlich in Form zu halten. Aber wenn der Soldat IT-Experte ist wie Ole Franke und sich neben seinem PC die Akten stapeln, hat die Arbeit Vorrang. Das geht dann so weiter, bis es bei manchem zu weit geht.
Für Piloten und Panzergrenadiere gibt es ungefähre Vorgaben, wie schwer und wie dick sie sein dürfen – wer nicht mehr durch die Luke passt, hat ein Problem. Aber wer nur mit dem Kopf und den Fingern arbeitet, kann ansonsten aussehen, wie er will. Dies ist ein freies Land, das gilt auch für diejenigen, die diese Freiheit verteidigen.
Auch die Uniform bietet keine Grenze. „Uniformen für 150-Kilo-Männer bekommen Sie locker“, sagt Ole Franke, und er muss es wissen. „Und was Sie nicht sofort bekommen, das wird angefertigt“, fügt Michael Kerk hinzu. Mittlerweile werden Kerk und Franke nicht mehr im Rahmen des Adipositas-Programms beraten, sondern im Rahmen der Sportlerbetreuung.
Geschafft! Die Soldaten sind jetzt hinter dem Hügel und somit über dem Berg...
Anstieg zum Erbeskopf, Hunsrück, Mai 2005. Es sind nur noch ein paar Meter. Ole Franke schwitzt. Es sind nur wenige Fahrer aus seiner Radsportgruppe vor ihm, ein paar mehr hinter ihm. Früher wäre er nie auch nur in die Nähe eines Berges gefahren, auch nicht, als er schon abgenommen hatte. Jetzt sind es nur noch ein paar Meter bis nach oben. Der Erbeskopf ist mit 818 Metern ü. NN der höchste Berg im Hunsrück.
Der Nachmittag, an dem Ole Franke seiner Tochter nicht das Radfahren beibringen konnte, ist weiter weg als der Mond. In seiner Gruppe fahren Leute mit, die seit 20 oder 30 Jahren im Sattel sitzen und trainieren. Und er kann mithalten. Mittlerweile hat er sich sein drittes Fahrrad seit dem Lehrgang zugelegt, 1100 Euro ist ihm die Sache mehr als wert.
In seinem Urlaub fährt er jeden Tag mindestens zwei Stunden Rad – nicht nur, um sein Gewicht zu halten, sondern weil es ihm Spaß macht. Weil er verrückt wird, wenn er eine Woche nicht trainiert. Die Kuppe wölbt sich, gleich geht’s auf der anderen Seite wieder nach unten. Als er sich zu einem seiner Mitfahrer umsieht, muss Ole Franke lachen. Einfach so. Denn er weiß: Er ist über den Berg. Autor: Jens Clasen