"Liebe ist ... das Bedürfnis und das Bemühen darum, sich in jemandem zu beheimaten", sagt Nils Pickert. Der freie Journalist aus Münster muss es wissen: Er ist seit 25 Jahren mit der selben Frau zusammen, hat vier Kinder und gerade ein Buch über die Liebe geschrieben, das den Titel trägt: "Lebenskompliz*innen: Liebe auf Augenhöhe". Sein Buch ist ein Frontalangriff auf die Romantik mit dem Ziel, die Liebe zu retten - also die perfekte Lektüre für Eltern. Denn wenn sich Nachwuchs einstellt, verändert sich auch die Beziehung – das weiß jeder, der Kinder hat. Pickerts Lösungsvorschlag lautet hier: Gleichberechtigung. Im Interview verrät der Autor, wie aus einer Liebesbeziehung eine Elternliebesbeziehung werden kann. Du kannst das Buch übrigens hier bei amazon oder hier bei Thalia (19 €, versandkostenfrei) bestellen.
Warum bevorzugst du den Begriff "Lebenskomplizin" und nicht "Partnerin"?
"Wir sind seit einem Vierteljahrhundert ein Paar und nicht verheiratet. Der Begriff Lebenskomplizin impliziert für mich, dass man sich gemeinsam gegen alle Widrigkeiten des Lebens verschwört. Dass man weiß, wie viele Dinge es gibt, die einem die Liebe versauen wollen, und sich das nicht bieten lässt."
Was ändert sich als Paar, wenn man Eltern wird?
"Alles. Das Liebespaar, was man einmal gewesen ist, existiert dann so nicht mehr. Deshalb ist es umso wichtiger, die Liebesbeziehung in einer Elternliebesbeziehung zu transformieren. Andernfalls fängt man irgendwann an, sich die Dinge vorzuwerfen, auf die man im Zuge der Elternschaft verzichten muss. Wenn man versucht, dieses Liebespaar von früher zu bleiben, hat man unweigerlich den Eindruck, um Zeit, Geld, intime Momente, geilen Sex und unglaubliche Möglichkeiten des damaligen Paarseins betrogen worden zu sein. Es kommt darauf an, sich eine Liebesbeziehung zu erschaffen, die sich daran nicht messen lassen muss."

Ist mit Kindern eine gleichberechtigte Partnerschaft, also 50/50, möglich?
"50/50 ist niemals möglich, deswegen ist Gleichberechtigung umso wichtiger. Es geht also nicht darum, dass alle am Ende des Tages, der Woche oder des Monats die gleiche Anzahl von Mahlzeiten gekocht oder Windeln gewechselt haben, sondern dass wir diesen Dingen mit Wertschätzung begegnen und dafür einen Ausgleich herstellen. Mehr austarieren, weniger aufrechnen. Und ja, das halte ich für absolut möglich und nötig."
Für wie sinnvoll hältst du Auszeiten zu zweit als Eltern?
"Ich finde es großartig, wenn Eltern sich die Zeit nehmen, mal miteinander zu sein, ohne ständig mit Fremdbedürfnissen zugeschmissen zu werden oder nur in Halbsätzen reden zu können. Allerdings halte ich es für einen Fehler, diese Auszeiten dafür nutzen zu wollen, um vom Elternalltag in ein Paarsein flüchten zu wollen. Wenn wir im Elternalltag nicht Paar sein können, wird irgendwann mindestens eine Person nicht mehr aus dieser Auszeitzone zurückkehren wollen. Aber gerade jenseits dieser Zone spielen sich ja große Teile des gemeinsamen Lebens ab. Liebesbeziehungen werden nicht durch die Menge an Extras tragfähiger, sondern durch eine Aufwertung des Alltags."
Was tun, wenn nach einer Geburt die Bedürfnisse z.B. nach Sex auseinandergehen?
"Erst einmal feststellen, dass das vollkommen in Ordnung ist. Es gilt keine Quote zu erfüllen, nichts muss skandalisiert werden – weder das Interesse noch das Desinteresse an Sex. Begehren ist immer individuell und wandelbar. Dass Begehren in einer Beziehung streckenweise ähnlich gelagert ist, ist ein Glücksfall und keine Selbstverständlichkeit. Wenn jemand in einer Beziehung mehr Sex will als der oder die andere, müssen wir vor allem in der Lage bleiben, das zu adressieren und wohlwollend damit umzugehen, anstatt einen Skandal daraus zu machen."
Wann sollte man sich eigentlich trennen?
"Wenn man nicht mehr in der Lage ist, sich in Wohlwollen zum anderen zu halten, die Wissbegier füreinander verliert, eintretenden oder ausbleibenden Wandel nicht mehr akzeptiert und nicht länger wahrhaftig sein kann."
Und wie gelingt eine Trennung im Guten?
"In Gleichberechtigung. Nehmen wir an, die Liebe für meine Lebenskomplizin schwindet, bis sie irgendwann erlischt. Würde ich wollen, dass sie mir deshalb Vorwürfe macht, an mir zerrt, mich anfeindet und vor den Kindern schlecht redet? Ganz sicher nicht. Also weiß ich doch ziemlich genau, zu welchem Verhalten ich mich aufzuraffen habe, falls sie es ist, die sich irgendwann trennen will. Ob ich in all dem Chaos und den Schmerzen einer Trennung dazu in der Lage bin, ist eine andere Sache. Aber ich kann hier und jetzt an der Akzeptanz für die Gleichwertigkeit unserer Bedürfnisse arbeiten."
Wie können Eltern, die sich aus den Augen verloren haben, wieder zusammenfinden?
"Sie fangen an, sich davon zu erzählen, wohin sie verschwunden sind und warum. Von welchen Bedürfnissen sie sich in der Beziehungsfremde Erfüllung erhofft haben. Weshalb sie wieder Lust auf einen Neuanfang miteinander haben. Und dann beginnen sie im besten Fall erneut damit, sich ineinander zu beheimaten."
Was sind deine 3 besten Beziehungs-Tipps für Elternpaare?
"Nur auf ein paar wenige Leute hören, die es erfahrungsgemäß sehr gut mit einem meinen. Das eigene Verhalten nicht idealisieren und das der oder des anderen nicht skandalisieren. Lieber mit dem gleichen Maß an Kraft und Geld den Alltag ein bisschen besser machen als in eine Ausnahmesituation zu investieren."
Sind Romantik und Gleichberechtigung eigentlich Gegenpole?
"Auch wenn ich durchaus etwas für romantische Gesten übrig habe, belügt uns Romantik über das Wesen der Liebe. Romantik ist generisch, beliebig und will uns weismachen, dass wir füreinander bestimmt sind, wenn es doch eigentlich darauf ankommen würde, sich aus freiem Willen füreinander zu bestimmen. Romantik tischt uns das Märchen auf, dass wir in der Liebe über das Maß der Menschlichkeit in ewige Unverbrüchlichkeit hinauswachsen können. Hinauswachsen sollen. Gleichberechtigung beschäftigt sich damit, wie wir Allzumenschliches organisieren und wertschätzen, um uns in Liebe halten zu können."
"Romantik will uns aufschwatzen, wie Liebe zu sein hat. Gleichberechtigung organisiert, wie Liebe sein kann", sagt Buchautor Nils Pickert. Über diesen Satz muss man mal einen Moment nachdenken, am besten zu zweit bei Kerzenschein und einem Glas Wein.