Ein Sonntag auf dem Spielplatz, das eigene Kind sitzt in der Sandkiste und buddelt friedlich mit seiner Schippe. Plötzlich schnappt sich ein anderer Junge den mitgebrachten Bagger, der unbeachtet im Sand lag. Das eigene Kind schaut entsetzt oder gar wütend und reißt ihm den Bagger wieder aus der Hand. Daraufhin beginnt der fremde Junge zu weinen.
Viele Eltern würden das eigene Kind nun ermahnen, den Bagger wieder abzugeben. Gute Reaktion oder unnötig?
Eltern wünschen sich gutes Sozialverhalten
"Viele Mütter und Väter haben den Glaubenssatz verinnerlicht, dass sie Kinder zum Teilen auffordern müssen", sagt die Sozialpädagogin Heidy de Blum aus Haßfurt. Sie leitet das familylab Deutschland - ein Netzwerk aus Erziehungsexpertinnen und -experten, das Eltern auf Grundlage der Werte und Lehren des renommierten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul berät, der im Jahr 2019 verstorben ist und zu Lebzeiten viele Bücher geschrieben hat, etwa "Mann und Vater sein".
"Hinter der Aufforderung der Eltern, den Bagger doch bitte abzugeben, stecke der nachvollziehbare Wunsch, ihr Kind möge sich sozial verträglich verhalten", sagt die Expertin. Man möchte nicht anecken, weder vor anderen Kindern noch deren Eltern. Schließlich spiegelt das Verhalten des eigenen Kindes auch unsere Erziehung und Werte wider. "Die meisten Kinder lernen Teilen jedoch von allein", sagt de Blum – auch ohne Ermahnung von Erwachsenen. Sie lernen von der Reaktion ihres Gegenübers und suchen selbst nach Lösungen.
In der Steinzeit war Teilen eher ein Nachteil
Aber warum sind Kleinkinder oftmals egoistisch, wenn es ums Teilen geht? Die Antwort liegt wie so oft in der Evolution. Der Egozentrismus zweijähriger Kinder stammt aus der Steinzeit und hatte in Zeiten der Versorgungsknappheit viele Vorteile. "Früher war es für Kinder wichtig, so viele Ressourcen wie möglich zu horten, weil das ihr Überleben sicherte", sagt de Blum.
Diese Veranlagung ist tief in uns verwurzelt. Auch heute noch. Es ist also keine böse Absicht, wenn Kinder Sandspielzeug und Schokoladenkekse horten. Sie müssen erst lernen, warum Teilen manchmal sinnvoll sein kann. Und das setzt gewisse kognitive Fähigkeiten voraus.
Teilen ist eine Frage der Gehirnreife
"Zu verstehen, warum wir teilen sollen, ist eine komplexe Leistung des menschlichen Gehirns", sagt de Blum. "Man muss in der Lage sein, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen. Zu verstehen, warum es den anderen traurig macht, wenn er eine gewünschte Sache nicht bekommt." Kleinkinder können das noch nicht, so die Expertin: "Ihr Gehirn ist schlichtweg noch nicht reif genug."
Erst ab dem Alter von vier Jahren fangen die meisten Kinder an, Empathie für andere Menschen zu entwickeln. "Im Vorschulalter fällt Kindern das Teilen schon leichter", sagt die Sozialpädagogin. "Spätestens, wenn sie in der Grundschule sind, teilen die meisten Kinder von sich aus und gern."
Auch viele Erwachsene teilen nicht gern
Wann habe ich eigentlich zuletzt etwas geteilt? Mein Lieblingsessen, mein Auto oder mein Smartphone, vielleicht sogar mit mir noch unbekannten Menschen? "Ein Perspektivwechsel wie dieser kann Eltern auf humorvolle Weise helfen, die eigenen Kinder besser zu verstehen", sagt Heidy de Blum.
Eltern verlangten ganz schön viel von ihren Kindern, wenn sie fordern, lieb gewonnene Sachen wie den Teddy abzugeben. Lieber sollte man Nachsicht zeigen – und selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Die Expertin: "Wenn Eltern Großzügigkeit vorleben, nehmen Kinder das auf und kopieren dieses Verhalten."
Kinder lernen Teilen durch Erfahrung
Kinder lernen vor allem durch Resonanzprozesse, so de Blum: "Sie merken, wie andere Menschen auf ihr Verhalten reagieren. Und sie machen die Erfahrung, wie es sich für sie selbst anfühlt, wenn andere Kinder nichts abgeben möchten." Statt zu schimpfen, sollten Eltern Verständnis aufbringen und ihr Kleinkind nicht zum Teilen drängen. Im schlimmsten Fall lerne ein Kind dann nur, aus Angst vor einer Strafe zu teilen.
Statt dem eigenen Kind den Bagger wieder wegzunehmen, können Eltern zum anderen Kind sagen: "Ich glaube, die Luise mag ihren Bagger gerade nicht teilen. Schau mal, wir haben noch Eisförmchen mit. Magst du vielleicht damit spielen?"
Fazit: Wir teilen unser Wissen gerne mit dir
Früher oder später, lernen die meisten Kinder, zu teilen – mit oder ohne Untersützung der Eltern. Doch was ist, wenn ein Kind gar nichts abgeben mag? Bei Verabredungen führt das schnell zu Konflikten. Heidy de Blum rät dazu, eine Kiste mit neutralen Spielsachen bereitzuhalten, die für alle Kinder da ist. Die Lieblingspuppe oder das geliebte Laufrad könne man vor einer Verabredung auch mal wegstellen. "Oder man trifft sich direkt auf neutralem Boden, im Park oder im Wald, wo man keine Spielsachen braucht.“ Ein Tipp übrigens, den du nicht nur für dich behalten musst.