Das solltest du als Papa eines neurodivergenten Kindes wissen

Neurodivergenz im Überblick
ADHS, Autismus und Co.: So kannst du dein Kind bestmöglich unterstützen

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Zuletzt aktualisiert am 23.10.2024
Ein Vater sitzt am Tisch und spielt mit seinem Sohn mit Bauklötzen
Foto: Shutterstock.com / Olena_Yakobchuk

Von vielen Formen der Neurodivergenz haben Eltern schon gehört: von ADHS und Autismus zum Beispiel. Aber auch Hochbegabung, Dyskalkulie (eine Mathe-Schwäche) und die Lese-Rechtschreib-Schwäche gehören zu diesem Spektrum.

Im Interview mit Men's Health Dad erklärt die Lehrerin und Bildungs-Influencerin Saskia Niechzial, die gerade ein Buch über neurodivergente Kinder geschrieben hat, warum die Diagnose kein Untergang ist und was Eltern über Neurodivergenz wissen müssen.

Zwei Ihrer drei Kinder sind neurodivergent. Sie beschreiben am Anfang Ihres Buches sehr bewegend, wie Sie als Eltern die Diagnose für eines Ihrer Kinder bekommen haben. Hat Sie diese Erfahrung dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

"Ich beschreibe am Anfang meines Buches diesen Moment, aber das war ein langer Prozess vom ersten Bauchgefühl und der Idee, dass das eigene Kind andere Verhaltensweisen zeigt als andere Kinder und man merkt, dass die typischen Begleitungstipps nicht richtig funktionieren. Ich habe mir mühsam Informationen zusammengesucht, gegoogelt, viel gelesen. Wenn ich anderen Eltern von meinen Gedanken erzählt habe, bekam ich viele ablehnende Kommentare und ich habe immer weniger darüber gesprochen. Ich habe viel an mir gezweifelt. Das Buch, das ich jetzt geschrieben habe, soll das Buch sein, das ich selbst für diesen Prozess gebraucht hätte."

Zur Neurodivergenz gehören ADHS, Autismus, aber auch Hochbegabung, Dyskalkulie und Lese-Rechtschreib-Schwäche. Was haben denn die Kinder in diesem Spektrum gemein?

"Was die Kinder gemein haben, ist, dass sie aus dem Erwartungsrahmen fallen. Das wiederum bedeutet, dass sie oft früh negativem Feedback begegnen. Denn früher war der Ansatz in der Pädagogik, neurodivergente Merkmale wegzukriegen, weil es ja nicht normal ist. Es passiert auch heute noch, dass Menschen sogar von Krankheiten sprechen. Wenn wir aber abwerten, wie diese Kinder sind, verbuddeln wir ihr ganzes Potenzial. Ich möchte davon wegkommen, die Kinder in normal und unnormal einzuteilen, sondern sie so begleiten, wie sie es brauchen."

Buchautorin Saskia Niechzial
Verlagsgruppe Beltz, Weinheim (ps-art.de)

Das, was für neurodivergente Kinder oft eine Herausforderung ist, kennen Eltern aus bestimmten Phasen ihrer Kinder. Sie wollen einfach nicht Zähne putzen oder das Einschlafen ist ein Kampf. Aber für Eltern neurodivergenter Kinder ist das immer der Fall. Wie können Eltern das meistern?

"Wir Eltern begleiten unsere Kinder beim größer werden so, wie sie sind. Wir wachsen ein Stück weit mit rein in diese Aufgabe. Es war ja nie anders. Ein ganz wichtiger Schritt für Eltern ist, zu begreifen und zu verstehen. Ich finde den Satz der Autorin Nora Imlau dazu sehr treffend: Unser Kind macht kein Drama, es erlebt das Drama. Das kann für uns als Eltern wie eine Kleinigkeit aussehen, bei der wir überhaupt nicht verstehen, warum das jetzt ein Problem ist. Für das Kind ist es aber wirklich ein Problem. Das Zähneputzen ist ein gutes Beispiel. Für autistische Kinder ist es eine ganz große sensorische Herausforderung, diesen Gegenstand im Mund zu haben. Das ist ein riesiger Kraftakt und der braucht Begleitung."

Ihr Buch heißt „Ein Kopf voll Gold“, weil Sie zeigen möchten, dass Neurodivergenz keine Krankheit oder Schwäche ist. Was sind denn die Vorteile an den einzelnen Formen von Neurodivergenz? Was können neurodivergente Kinder gut?

"Ich würde sogar sagen, dass sich das mindestens die Waage hält. Kinder mit ADHS zum Beispiel haben oft eine sehr schnelle Auffassungsgabe, wenn es eine Krisensituation gibt. Die Alltagssituationen sind eine Herausforderung, aber da wo schnelles Handeln erforderlich ist, können sich die Kinder binnen Sekunden einen Überblick verschaffen, Verknüpfungen herstellen und Lösungen finden. Wenn man ein Gehirn hat, das außerhalb des Erwartungsrahmens läuft, ist es auch sehr wahrscheinlich, dass man Lösungen findet, auf die noch nicht so viele andere gekommen sind. Darin steckt ein Riesenpotenzial. Im späteren Berufsleben und im richtigen Kontext kann das eine große Stärke sein. Autistische Kinder zum Beispiel achten sehr genau auf Details und sie können schnell enttarnen, wenn jemand nicht authentisch ist oder lügt. Ich rate Eltern neurodivergenter Kinder, sich die Biografien berühmter und erfolgreicher Menschen anzuschauen. Viele von ihnen sind neurodivergent. Sie haben es nicht trotz ihrer Neurodivergenz geschafft, sondern wegen."

Podcast-Tipp: Über das Leben mit einem autistischen Kind hat TV-Moderator und Influencer Daniel Bröckerhoff auch schon einmal in unserem Podcast gesprochen - hier geht's zum Gespräch:

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Sie haben sich auch selbst auf Neurodivergenz testen lassen. Sie haben ADHS mit Hochbegabung. Wie war es, als erwachsene Frau diese Diagnose zu bekommen?

"Es kommt tatsächlich häufig vor, dass sich Eltern während des Diagnoseprozesses ihrer Kinder irgendwann denken: Moment mal, das kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Ich selbst bin als Kind nicht so begleitet worden, wie ich es bräuchte und habe das weit weg geschoben, um mich zu schützen. Als mir das klar wurde, wollte ich wissen, was da los ist. Das ist jetzt ungefähr vier Jahre her. Diese Diagnose zu bekommen, war sehr heilsam und ich wollte diese Klarheit auch für meine Kinder."

Die Frage, ob Eltern mit ihren Kindern den Weg zu einer offiziellen Diagnose einschlagen, ist schwierig zu beantworten. Viele wollen diesen Schritt nicht gehen. Warum kann es wichtig sein, trotzdem sich auf den Weg zu machen?

"Ich werde am meisten gefragt, ob Eltern diesen Weg gehen sollten. Ich verstehe die Unsicherheit, ich war selbst an dem Punkt. Eltern denken, dass es – solange sie es noch nicht schwarz auf weiß haben – noch nicht real ist. Dabei machen die Kinder auch ohne offizielle Diagnose die gleichen ablehnenden Erfahrungen in ihrem Umfeld. Das Kind verhält sich eben so, wie es sich verhält. Die Kinder bekommen das gleiche Feedback, nur ohne Diagnose. Mit einer Diagnose können Kinder und Eltern das ganz anders einsortieren und auch dem Umfeld gegenüber kommunizieren. Kinder, die diese Antwort nicht haben, denken irgendwann: Ich streng mich doch an. Ich versuch's doch anders, aber es klappt nicht. Und dann denken sie, dass sie falsch sind. Genau das wollen wir nicht."

Es kommt auch vor, dass Eltern das Kind unterschiedlich einschätzen. Sie beschreiben, dass meist der Elternteil, der weniger Zeit mit dem Kind verbringt, einer möglichen Diagnose kritischer gegenübersteht. Was können Paare tun, wenn einer von beiden dem Prozess noch kritisch gegenübersteht?

"Es ist natürlich hilfreich, wenn beide Elternteile möglichst viel Zeit mit dem Kind verbringen. Wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht geht, ist es wichtig, dass der Elternteil, der etwas beobachtet und sich in das Thema einliest, den anderen möglichst früh auf den Weg mitnimmt und nicht erst 3 Jahre lang Bücher liest und dann ein Referat hält. Das überfordert den Partner, der dem Thema noch nicht so aufgeschlossen gegenübersteht. Manchmal ist es gut, gar nicht selbst als Informationsquelle aufzutreten, sondern dem Partner oder der Partnerin sachliche Artikel dazu zu geben und dann darüber zu sprechen. Einen ersten Beratungstermin bei der Kinderärztin zu machen, kann ein erster Schritt sein. Von da kann es weitergehen zu speziellen Zentren oder Kinderpsycholog:innen. Dort darf der skeptische Elternteil durchaus seine Zweifel äußern."

Aufgrund der Aufgabenverteilung in vielen Familien sind es oft die Väter, die kritisch sind. Gibt es etwas, dass Sie besonders Vätern zur möglichen Neurodivergenz ihrer Kinder mitgeben möchten?

"Meiner Erfahrung nach kommt das häufig vor. Bei Vätern spielt es sicher eine Rolle, dass sie anders aufgewachsen sind, oft geprägt von einem anderen Männerbild. Da galt Sensibilität als Schwäche. Das Gefühl, das eigene Kind könnte eine Schwäche haben, das wollen diese Väter nicht zulassen. Wir sprechen hier von Männern, die noch damit aufgewachsen sind, dass Jungen nicht weinen sollen. Diese Bilder kann man aber aufbrechen, indem man darüber spricht."

Sie erzählen in Ihrem Buch auch, dass Eltern enttäuscht sein können, wenn sie eben keine Diagnose bekommen. Warum?

"Eltern verbinden mit dem Diagnoseprozess eine gewisse Hoffnung, eine Erklärung zu bekommen, die nicht ihnen die Schuld gibt. Viele Eltern fragen sich: War ich das? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich als Mutter habe die wildesten Vorwürfe gehört, warum meine Kinder so sind, wie sie sind. Weil ich zu früh – also nach einem Jahr – wieder arbeiten gegangen bin, zum Beispiel. Oder weil unsere Kinder mit zwei Jahren dazwischen einen zu geringen Altersabstand haben. Auch ich habe manchmal gedacht: Was, wenn sie recht haben? Natürlich ist es nicht das vorrangige Ziel des Diagnoseprozesses, die Eltern zu entlasten. Aber es hilft, wenn sie mit einer Diagnose verstehen und kommunizieren können, warum sich ihr Kind auf bestimmte Art und Weise verhält. Das gibt den Eltern eine ganz andere Sicherheit. Wenn diese Antwort dann ausbleibt, weil das Kind keine Diagnose bekommt, kann das enttäuschen."

Fazit: Eine Diagnose ist nicht immer notwendig

"Eltern können sich auch ohne Diagnose Hilfe suchen", sagt Buchautorin Saskia Niechzial. "Bestimmte Therapieformen wie Logopädie, Ergotherapie und Psychotherapie sind gar nicht an eine Diagnose gebunden." Und: "Es gibt immer auch die Möglichkeit, eine zweite Meinung einzuholen. Das kommt sehr darauf an, inwieweit ich das Gefühl habe, dass mein Kind wirklich gesehen wurde. Gerade bei Mädchen kann es sein, dass eine zweite Meinung zu anderen Ergebnissen kommt, weil Mädchen in der Forschung zur Neurodivergenz lange ausgeblendet worden sind." Du möchtest mehr zu diesem Thema wissen? Dann empfehlen wir dir das neue Buch unserer Expertin: "Ein Kopf voll Gold".