ADHS: Wie du als Papa mit der Diagnose lebst

Neurodivergente Väter
Wie du als Papa mit ADHS lebst

ArtikeldatumZuletzt aktualisiert am 08.10.2025
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Auf dem Sofa sitzt ein verzweifelter Vater, dahinter tobt sein Sohn herum
Foto: Shutterstock.com / Fizkes

Ist ADHS nur was für kleine Jungs? "Nein", sagt Carlson El Murtadi, Heilpraktiker für Psychotherapie mit eigener Praxis im Landkreis München. Schließlich verschwindet ADHS nicht einfach, wenn man älter wird. 60 bis 70 Prozent der Betroffenen zeigen auch als Erwachsene Symptome. Häufig bleibt das dahinterstehende Krankheitsbild jedoch unerkannt.

"In meine Praxis kommen die Männer, weil ihre Frau sich trennen will – und haben keine Ahnung, dass eine Stoffwechselstörung im Gehirn hinter dem Chaos in ihrem Leben steht!", erzählt er. Im Interview mit Men's Health Dad erklärt er alles Weitere zu Neurodivergenz bei Vätern.

Wie zeigt sich ADHS im Erwachsenenalter?

Bei ADHS denken viele an die klassische Zappelphilipp-Symptomatik, also an körperliche Unruhe, Unkonzentriertheit und damit einhergehend schulische Probleme. Erwachsene haben oft gelernt, ihre Symptome zu kompensieren. Damit verlagern sich diese nach innen. Ihre Hyperaktivität ist nicht weg, sie zeigt sich aber eher in Form kreisender Gedanken und innerer Getriebenheit. Von ihrem Umfeld werden Menschen mit ADHS oft als unzuverlässig wahrgenommen: Es fällt ihnen schwer, Termine einzuhalten, sie verlieren Dinge und vergessen Absprachen. Dazu kommen Schwierigkeiten bei der Regulation von Gefühlen. Gereiztheit, Frustration und emotionaler Rückzug können Symptome der Krankheit sein.

Hintergrund ist eine Stoffwechselstörung im Gehirn. Die Verarbeitung der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin funktioniert nicht wie bei neurotypischen Menschen. Beide Stoffe sind jedoch essenziell dafür, dass wir uns konzentrieren und ins Handeln kommen können. Menschen mit ADHS erhalten damit oft von klein auf die Rückmeldung, Erwartungen nicht zu genügen. Sie geraten zudem häufig mit ihren Mitmenschen in Konflikt. Gerade in der Schule mussten viele Menschen mit ADHS die Erfahrung machen, dass auf ihr "Versagen" mit Druck und Bestrafung reagiert wurde. Entsprechend ist ihr Selbstwert im Erwachsenenalter oft nicht stabil und sie zeigen ein höheres Risiko für begleitende Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder auch Burnout.

Warum kommen Väter zu Ihnen in die Praxis?

Der Leidensdruck ist oft hoch. Einerseits haben Männer mit ADHS Probleme im Job, also Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten. Sie gelten als unzuverlässig und haben häufig Versagensängste. Und auch in der Partnerschaft oder Familie läuft es nicht rund. Sie vergessen Absprachen, es fällt ihnen schwer, zuzuhören, sie haben gerade bei Routineaufgaben häufig eine Art innere Blockade, diese zu erledigen und reagieren bei Kritik mit Wut und Aggression. Auch ihren Kindern gegenüber fällt es Vätern mit ADHS oft schwer, ihre Gefühle zu regulieren. Sie sind emotional nicht wirklich erreichbar – gerade in Phasen des Hyperfokus, in denen sie sich auf andere Dinge konzentrieren – oder eben sehr sprunghaft in ihren Emotionen. Das belastet natürlich alle familiären Beziehungen. Entsprechend kommen die Männer oft regelrecht verzweifelt in meine Praxis mit der Frage, was denn da schiefläuft und ob sie für den Alltag mit Job und Familie schlicht nicht gemacht sind.

Was sagen Sie Ihren Klienten dann?

Häufig kann ich sie als ersten Schritt darauf aufmerksam machen, dass sie im Moment sehr ungünstige Strategien anwenden, um ihrer Schwierigkeiten Herr zu werden. Typisch männliche Bewältigungsstrategien wie Rückzug, emotionale Sprachlosigkeit und Rationalisierung, der Versuch also, Probleme mit sich selbst auszumachen und damit die Kontrolle über das eigene Leben wiederzuerlangen, verstärken Schwierigkeiten oft eher, als dass sie sie lösen. Dazu kommt bei vielen Männern eine auffallende Körperferne, bis hin zu gesundheitlicher Vernachlässigung. Männer ignorieren körperliche Symptome oft viel zu lange. Alkohol oder auch Canabis als "Selbstmedikation" verstärken zwar kurzfristig die Dopaminausschüttung – ähnlich wie beim Frustessen – und sorgen damit für Erleichterung, schaffen aber langfristig weitere Probleme.

Was hilft Männern – und Vätern – mit ADHS?

Der erste Schritt ist eine fundierte Diagnostik. Diese sollte immer von ADHS-Fachexperten wie Psychiatern oder ärztlichen Psychotherapeuten durchgeführt werden. Im Rahmen einer ausführlichen Anamnese, auch mit Blick auf die Kindheit, wird die Diagnose gestellt und von anderen psychischen oder körperlichen Ursachen abgegrenzt. In vielen Fällen wird danach eine medikamentöse Behandlung angeboten.

Heilpraktiker für Psychotherapie Carlson El Murtadi
Robert Kiderle

Ergänzend ist eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll, zum Beispiel die Kognitive Verhaltenstherapie, die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) oder Schematherapie. Hier geht es nicht nur um Strategien für den Alltag, sondern auch darum, ADHS überhaupt zu verstehen, Emotionen besser zu regulieren und das Gefühl chronischen Versagens zu bearbeiten.

Ein wichtiger Baustein ist außerdem Psychoedukation. Was genau passiert bei ADHS im Gehirn? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Welche davon passen zu mir? Wer versteht, was im eigenen Inneren vor sich geht, kann besser mitsprechen und mitentscheiden.

Was ist noch hilfreich?

Wichtig für Betroffene ist darüber hinaus, sich unterstützende Strukturen zu schaffen: Für Termine gibt es zum Beispiel hilfreiche Apps oder digitale Orga-Tools, gegen Reizüberflutung in einem lauten Umfeld helfen Kopfhörer. Gerade Männer mit ADHS dürfen zudem lernen, über ihre Besonderheit zu sprechen und sich auch Familienangehörigen anzuvertrauen. Oft ist das der erste Schritt zu positiver Veränderung. Ehrlicherweise muss man jedoch sagen, dass genau diese Offenheit Männern häufig schwerfällt. Hilfreich kann hier der Austausch mit anderen Betroffenen sein und die Erkenntnis, dass ADHS nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Ressource sein kann. Menschen mit ADHS sind oft besonders humorvoll und kreativ. Sie brennen für die Dinge, die ihnen wichtig sind und können sich gerade in Phasen des Hyperfokus intensiv auf eine Sache konzentrieren. Es geht also nicht darum, die Krankheit abzulehnen, sondern einen gesunden Umgang mit ihr zu finden.

Was hält Männer davon ab, sich Hilfe zu holen?

Die meisten Männer kommen erst zu mir in die Praxis, wenn das Kind quasi schon in den Brunnen gefallen ist, wenn also zum Beispiel die Partnerin bereits mit Trennung droht. Dahinter steht noch immer ein gesellschaftliches Bild von Mannsein, das Schwäche weitgehend ausschließt. ADHS und damit das Gefühl, nicht richtig zu funktionieren oder gar "nicht richtig im Kopf" zu sein, wird damit oft als Makel empfunden. Ich selbst kann hier nur an Männer – und insbesondere Väter – appellieren: mach es anders!