"Väter können alles, außer stillen" heißt es oft. Das stimmt, bedeutet aber nicht, dass man sich als Mann aus der Verantwortung stehlen kann, wenn das Kind die Brust bekommt. Denn die Einstellung des Vaters zum Thema hat durchaus Einfluss auf Mutter und Säugling. Zudem wird häufig unterschätzt, wie anstrengend das Stillen ist: Ein Neugeborenes muss mehrmals am Tag und in der Nacht in kurzen Abständen gestillt werden - da ist eine vielseitige Unterstützung durch den Partner wichtig. Wie die aussehen kann, erfährst du im Folgenden: Wir haben zu dem Thema gleich zwei Expert:innen befragt: Mildi Karin Sand aus Regensburg, Familienbegleiterin, Stillberaterin und Autorin des Buches "Mein Bauch ist ein Vulkan: Ein Mitmachbuch für und über gefühlsstarke Kinder" und den Berliner Diplom-Sozialpädagogen Alexander Kusinski, der seit Jahren Crashkurse für werdende Väter anbietet. In unserem Doppel-Interview stillen sie den Wissensdurst frisch gebackener Väter.
Was sind die Vorteile des Stillens?
Mildi Karin Sand: "Stillen ist einfach die biologische Norm. Es ist das, was die Natur für Menschenkinder vorgesehen hat. Außerdem hat es viele gesundheitliche Vorteile für Mutter und Kind. Das Kind zum Beispiel ist weniger anfälliger für Allergien, Übergewicht und Krankheiten wie etwa Morbus Crohn. Außerdem ist es viel billiger und praktischer zu stillen."
Alexander Kusinski: "Ich sehe das Stillen als beste Ernährungsquelle für ein Kind. Die Muttermilch hat die richtige Zusammensetzung und Temperatur für ein gesundes Wachstum. Genauso wichtig ist für mich, die enge Bindung zwischen Mutter und Kind, die beim Stillen entsteht."
Haben Väter Einfluss darauf, wie gut das Stillen funktioniert?
Mildi Karin Sand: "Auf jeden Fall, sogar einen sehr großen. Ich glaube aber, dass viele Väter sich ihrer Rolle nicht bewusst sind und wie wichtig es ist, das Stillen zu unterstützen."
Alexander Kusinski: "Ich denke, wenn Väter eingebunden werden und darüber Bescheid wissen, wie das Stillen funktioniert und wie oft überhaupt gestillt werden muss, dann können sie die Frau besser dabei unterstützen."
Wie kann ein Vater seine stillende Partnerin unterstützen?
Mildi Karin Sand: "Zunächst kann er alle praktischen Dinge rund um das Stillen übernehmen und so für Entlastung sorgen. Zum Beispiel den Platz gemütlich herrichten, wo gestillt wird, der Frau Kissen und Decken bringen, allgemein für eine entspannte Atmosphäre sorgen. Er kann das Baby zwischendurch wickeln, baden, wiegen und massieren. Er kann seiner Partnerin Nähe anbieten, Gesellschaft leisten und Interesse zeigen. Er muss dann aber auch akzeptieren, wenn sich die Mutter lieber zurückziehen möchte. Väter können sich auch gut um die Geschwisterkinder kümmern, das Kochen und den Mental Load übernehmen. In den ersten Monaten und sogar Jahren werden die Kinder rund um die Uhr gestillt, oft in kurzen Abständen, da im Vergleich zur Pulvermilch die Muttermilch unglaublich schnell verdaut wird. Deswegen sind auch die Nächte anstrengend für Mütter. Da können Väter nachts mit dem Kind durch die Wohnung tigern oder es zum Stillen bringen und es wickeln."
Alexander Kusinski: "Der Vater kann das Team unterstützen, indem er das Kind zum Stillen bringt, danach zum Bäuerchen machen wieder entgegennimmt. Außerdem der Frau etwas zum Trinken und Essen hinstellt, denn Frauen, die stillen, sollten immer eine Kleinigkeit essen."
Wie erleben Väter die Stillzeit?
Mildi Karin Sand: "Ich glaube, es ist bei vielen Männern ambivalent. Dass Stillen eine gute Sache und einfach normal ist, das wissen ganz viele. Aber die Rolle der Väter hat sich in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich gewandelt. In der Regel sind Väter viel präsenter und wollen auch gerne die Familie mitgestalten. Das Stillen an sich lässt aber einfach aus biologischen Gründen nur eine unterstützende Rolle des Vaters zu, denn selbst stillen kann der Vater halt nicht. Deswegen ist man als Vater auch ein Stück weit abhängig von der Mutter. Und ich glaube, dass das auch mal schwierig sein kann."
Alexander Kusinski: "Die Väter erleben eine sehr innige Zeit zwischen Mutter und Kind. Manche Papas wollen da nicht stören und nehmen Abstand, wiederum gibt es Papas, die eifersüchtig werden und sich dieselbe Innigkeit wünschen. Je mehr man sie mit in das Umfeld aufnimmt und an allem teilhaben lässt, desto einfacher ist es. Für Männer ist es ein Segen, wenn das Stillen funktioniert."
Was kann der Mann machen, wenn es mit dem Stillen nicht funktionieren will?
Mildi Karin Sand: "Zum einen kann er die Nummer von einer Stillberaterin oder gut informierten Hebamme bereithalten und auf diese Art dafür sorgen, dass schnell Unterstützung zur Hand ist. Zum anderen kann er seine Frau dabei helfen zu schauen, woran es liegen könnte. Es gibt tatsächlich nur einen kleinen Prozentsatz von Frauen, bei dem es anatomisch nicht funktionieren will. Es können aber auch psychische Gründe vorliegen. Und natürlich gibt es auch Mütter, die einfach nicht stillen wollen. Auch das ist natürlich okay. Letztendlich liegt die Entscheidung darüber bei der Mutter und die sollte akzeptiert werden, egal, wie sie aussieht. Wenn beide Trauer und Schmerz empfinden, weil es nicht funktioniert, sollte darüber gesprochen werden und man sollte sich gegenseitig auffangen und unterstützen."
Alexander Kusinski: "Der Mann sollte auf keinen Fall seiner Frau die Schuld geben und im Internet nach Gründen suchen, warum es nicht funktioniert. Meistens steht die Frau unter Anspannung und ist gestresst, wenn es nicht funktionieren will. Dann sollte der Mann eine entspannte Atmosphäre schaffen und der Frau häufiger mal das Kind abnehmen."
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Welchen Einfluss hat die Stillzeit auf die Vater-Kind-Bindung?
Mindi Karin Sand: "Stillen ist eine gute Möglichkeit, um eine feste und schnelle Bindung zum Kind aufzubauen, da sind Väter leider außen vor. Dabei finde ich es wichtig zu vermitteln, dass Stillen kein Bedürfnis von Kindern ist, sondern es ist eine Strategie, um alle Bedürfnisse auf einen Schlag zu stillen. Da steckt das Bedürfnis nach Nahrung, Flüssigkeit, Körperkontakt, Entspannung und Bindung hinter – all diese Bedürfnisse können aber auch anders gestillt werden. Da kann der Papa auch andere Möglichkeiten finden, um sein Kind zu beruhigen. Der Papa kann das Kind tragen oder auf einem großen Gymnastikball mit ihm hoppeln, da darf er sich schon etwas trauen. Es ist nicht immer so, dass das Kind niemals weinen darf und sich sofort beruhigen muss. Wichtig ist, dass Kinder das Gefühl haben, jemand ist da und kümmert sich. So können Väter eine genauso gute Bindung und Urvertrauen aufbauen."
Alexander Kusinski: "Apropos tragen. Ich sage immer, was für die Frauen das Stillen ist, ist für die Männer das Tragen des Kindes. Männer sollten von Anfang an ihre Kinder tragen. Das kann dann eine ähnlich innige Bindung zum Kind schaffen wie das Stillen bei der Mutter. Das hilft auch der Partnerin, denn durch die Geburt ist ihr Beckenboden noch geschwächt, sodass sie nicht viel tragen darf."
Sollten Väter bei den Stillkursen dabei sein?
Mildi Karin Sand: "Ich habe viel Kontakt zu Familien, weil ich unter anderem als Stillberaterin arbeite. Mittlerweile nehmen auch immer mehr Väter an einer Stillberatung oder an Stillvorbereitungskursen teil, das ist meiner Meinung nach eine schöne Entwicklung. Ich finde es einfach wichtig, dass Väter sich darüber informieren und genauso viel Wissen wie die Mamas über das Stillen und die Versorgung von Babys und Kindern haben."
Alexander Kusinski: "Da bin ich etwas anderer Meinung. Ich finde, in reinen Stillkursen haben Väter nichts zu suchen. Ein Stillkurs sollte nur den Frauen vorbehalten bleiben, denn sie brauchen diesen Raum für sich, da das Stillen eine sehr intime und innige Situation ist."
Gibt es spezielle Kurse für Väter zu dem Thema?
Alexander Kusinski: "Ja, ich gebe seit vielen Jahren Kurse für werdende Väter rund um die Geburt. Der geht über drei Stunden. Da geht es vor allem darum, wie man mit dem Baby umgeht, wie man seine Partnerschaft nach einer gewissen Zeit wieder in Schwung bringen kann und was man während der Geburt tun und nicht tun sollte. Wesentlich ist eben, dass es Kurse für Männer geben sollte, die kurz, prägnant und informativ sind."
Worüber sollte man schon in der Schwangerschaft sprechen?
Mindi Karin Sand: "Man sollte über seine Gefühle sprechen, denn Stillen ist nicht immer nur super für die Mama und den Papa – manchmal ist es auch einfach anstrengend. Mentale Unterstützung ist dabei auch ganz entscheidend, besonders wenn man während der Schwangerschaft überlegt, ob überhaupt gestillt werden soll oder auch bei anderen Schwierigkeiten. Es ist wichtig, sich klar zu positionieren, auch Dritten gegenüber. Außerdem sollte man vorher besprechen, was alles ansteht und welche Aufgaben zu übernehmen sind. Es kann nicht sein, dass eine stillende Mama sich auch weiterhin um alles kümmern muss. Das können Väter genauso gut. Man kann Elternzeit nehmen oder in Teilzeit weiterarbeiten. Es muss ja gar nicht sein, dass eine Person allein mit dem Kind oder den Kindern zu Hause ist. Es kann auch ein gutes Modell sein, dass beide in Teilzeit arbeiten."
Alexander Kusinski: "Kommunikation ist alles in einer Partnerschaft. Vor der Geburt sollte man sich zusammen über alles Wichtige informieren. Darüber, was auf einen zukommt, wie die Situation der Frau nach einer Entbindung ist und welche Herausforderung sie mit dem Stillen haben könnte. Dann kann man vorab klären, wer kocht oder wie der weitere Support aussieht, sodass die Partnerin dann auch mal sagen kann: 'Hey, ich wünsche mir von dir die und die Unterstützung'."
Gibt es beim Stillen Konfliktpunkte, die entstehen könnten, wie zum Beispiel Eifersucht?
Mindi Karin Sand: "Ja, Eifersucht kommt vor. Dabei sollte der Vater aber wissen, dass eine enge und tragfeste Bindung zwischen Mutter und Kind sehr wichtig ist und nichts über die Bindung zum Vater aussagt und diese auch nicht schwächt. Je mehr Sicherheit und enge Bindungen ein Kind hat, desto besser."
Manche Frauen stillen bis zum 2. Lebensjahr, wie verändern sich in der Zeit die Aufgaben des Vaters?
Mindi Karin Sand: "In unserer Gesellschaft ist die durchschnittliche Stilldauer nicht besonders lang – ungefähr acht Monate. Das ist komplett gegen die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die empfiehlt nämlich sechs Monate voll stillen und dann mit geeigneter Beikost weiter bis zum zweiten Geburtstag und darüber hinaus, solange es Mutter und Kind wünschen. Andere Kulturen stillen ihr Kind durchschnittlich drei Jahre. Dass in unseren Breitenkreisen deutlich kürzer gestillt wird, liegt zum einen daran, dass die Milchzubereitungsindustrie ganze Arbeit geleistet hat und zum anderen, dass es nicht zu unserer Lebensrealität passt – oder es scheint zumindest so. Die Aufgaben des Vaters verändern sich in der Zeit sehr. Am Anfang ist es eine sehr starke Unterstützung und je älter das Kind wird, so kürzer ist die Stillzeit. Nach einem halben Jahr, wenn die Beikost gestartet wird, wird die feste Nahrung immer mehr und das Stillen weniger. Da kann auch der Papa gut die Beikost füttern. Die Kinder werden außerdem immer mobiler und aktiver, da ist es wichtig auch als Spielpartner zur Verfügung zu stehen und ihnen die Welt zu erklären."
Alexander Kusinski: "Ein Kind im ersten Lebensjahr zu betreuen, ist etwas anderes als im zweiten Lebensjahr. Nach dem ersten Lebensjahr beginnt das Kind zu laufen und sich zu artikulieren, das sind enorme Schritte. Das Stillen wird dann einfach ein Teil davon. Die Aufgaben eines Vaters verändern sich dabei stetig. Am Anfang muss er sich um das Wohl von Mutter und Kind kümmern und dann mehr und mehr eine eigene gute Bindung zum Kind aufbauen. Wenn gestillt und abgepumpt wird, dann kann der Vater das Stillen mit der Flasche übernehmen. Nach meinen Kenntnissen stillen manche Frauen nach zirka sechs Monaten schrittweise ab. Die Gründe dafür sind vielseitig. Sie wollen wieder voll arbeiten gehen oder wünschen sich mehr Selbstbestimmung, die ersten Zähne verursachen Schmerzen und so weiter. Der Schritt zum Abstillen ist für die Frauen nicht immer so einfach und die Väter sollten ihrer Frau dabei verständnisvoll zur Seite stehen und vor allem die Chance nutzen, über die Beikost nun ebenfalls einen weiteren bindungsfördernden Aspekt zu ihrem Kind zu haben."
Fazit: Stillen ist bei Weitem kein reines Frauenthema
Ganz im Gegenteil: Je besser auch der Mann Bescheid weiß und die Frau in der Stillzeit unterstützt, desto besser klappt das Trinken des Babys an der Brust oftmals. "Viele Väter sind sich der Bedeutung ihrer Rolle gar nicht bewusst", sagt Stillberaterin Mindi Karin Sand, die demnächst übrigens ein neues Buch veröffentlicht: "Meine Milch" (erscheint bei Edition Claus). Hoffentlich findet der Titel auch ein paar männliche Leser.