Kindheit ohne Gepäck: Wie du es besser machst als deine eigenen Eltern

Kinder erziehen
Wie du es besser machst als deine eigenen Eltern

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ArtikeldatumVeröffentlicht am 29.10.2025
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Vater und Sohn gehen durch den Wald
Foto: Shutterstock.com / Ground Picture

"Nichts konfrontiert uns schneller und stärker mit den Konflikten der Herkunftsfamilie als die Begleitung der eigenen Kinder, insbesondere in stressigen Situationen", sagt Carina Thiemann. Sie ist systemische Kinder-, Jugend- und Familientherapeutin, arbeitete als Erzieherin, Sozial- und Traumapädagogin, unter anderem in Krippe, Kindergarten, Hort und Jugendamt und hat gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel "Kindheit ohne Gepäck". Im Interview mit Men's Health Dad erzählt die Buchautorin, wie du alte Muster durchbrichst und mit deinem Kind neue Wege gehen kannst.

Welches Gepäck tragen wir als Eltern meist unbewusst mit uns – und warum ist es so entscheidend, sich dessen bewusst zu werden?

Viele Eltern tragen alte Prägungen, unbewusste Glaubenssätze oder erlernte Überlebensstrategien mit sich, die aus der eigenen Kindheit stammen. Dieses emotionale Gepäck zeigt sich oft in Form von starren Erwartungen, überhöhten Ansprüchen an sich selbst oder automatisierten Reaktionen im Familienalltag. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, übertragen wir alte Verletzungen auf die nächste Generation – obwohl wir es eigentlich besser machen wollen. Bewusstwerdung ist daher der erste Schritt zur Veränderung: Nur was wir erkennen, können wir auch verändern.

Sie sprechen von Eltern als Cyclebreakern. Was genau bedeutet dieser Begriff und warum halten Sie es heute für besonders wichtig, alte Muster bewusst zu durchbrechen?

Cyclebreaker:innen sind Menschen, die bereit sind, den transgenerationalen Kreislauf aus Verletzungen, Überforderung und unreflektierten Erziehungsmustern zu durchbrechen. Sie schauen mutig auf die eigene Geschichte und entscheiden sich bewusst für eine neue Form der Beziehungsgestaltung mit ihren Kindern. Gerade heute, in einer Zeit der ständigen Reizüberflutung und gesellschaftlichen Umbrüche, braucht es Eltern, die innerlich aufgeräumt, verbunden und selbstreflektiert sind. Dabei geht es auch nicht um Schuld, sondern um die Bereitschaft, Verantwortung für den eigenen inneren Zustand zu übernehmen.

Carina Thiemann
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Viele Eltern bemerken erst mit eigenen Kindern, wie sehr ihre Vergangenheit nachwirkt. Woran erkennen Mütter und Väter, dass sie unbewusst die eigene Kindheit wiederholen?

Ein deutliches Signal ist das Gefühl, in bestimmten Situationen wie ferngesteuert zu reagieren – etwa wenn das Kind wütend ist und man plötzlich schärfer wird, als man eigentlich möchte. Auch typische Sätze der eigenen Eltern, die einem rausrutschen, obwohl man sie nie sagen wollte oder starke emotionale Überreaktionen auf Kleinigkeiten können Hinweise auf aktivierte Kindheitsanteile sein. Wenn das Verhalten des Kindes Gefühle wie Ohnmacht, Überforderung oder Kontrollverlust auslöst, lohnt sich ein genauerer Blick. Oft wiederholen wir unbewusst das, was wir selbst erlebt haben – oder gehen ins Gegenteil, um alten Schmerz zu vermeiden. Unsere alten unerfüllten Bedürfnisse verschwinden nicht einfach, sondern fordern mit genau solchen Ausbrüchen oder inneren Spannungen eine nachträgliche Versorgung und Nachbeelterung ein.

Ihr Buch verbindet theoretische Impulse mit praktischen Übungen. Welche erste kleine Übung würden Sie Eltern empfehlen, die sich gerade erst auf diesen Weg machen?

Eine einfache, aber sehr wirksame Übung ist die Frage: "Handle ich gerade als souveräner Erwachsener – oder aus einem bedürftigen und unreifen kindlichen Anteil heraus?" Diese Reflexion kann dabei helfen, sich selbst in stressigen Momenten zu beobachten und innezuhalten. Wer mag, kann diese Frage als Post-it an den Kühlschrank kleben oder als tägliche Erinnerung (mit Wecker!) im Handy speichern. So kann wieder Kontakt aufgenommen werden mit den noch unversorgten Wunden und alten Bedürfnissen, die auf Zuwendung warten. Allein diese Selbstbeobachtung kann schon eine erste kleine, aber kraftvolle Nachbeelterung sein.

Veränderung in Familien stößt oft auch auf Widerstände – etwa bei Partnern oder Großeltern. Welche Strategien können helfen, wenn nahestehende Personen an traditionellen Erziehungsmustern festhalten?

Widerstand ist meist ein Zeichen von Unsicherheit oder Angst vor Kontrollverlust. Hier hilft eine Haltung der Verbindung statt Konfrontation, ich nenne sie "Haltung des milden Herzens": Statt andere zu belehren, könnte man sie lieber neugierig machen, zum Beispiel durch persönliche Geschichten oder das Teilen eigener Aha-Erlebnisse. Auch die Botschaft "Ich mache das nicht gegen dich, sondern für mein Kind" kann Brücken bauen. Wichtig ist, sich innerlich klar auszurichten – auch wenn nicht alle sofort mitgehen. Veränderung beginnt oft bei einer einzelnen Person, die frischen Wind in das Familiensystem bringt.

Ein zentrales Thema in Ihrem Buch ist die Selbstregulation. Wie können Eltern lernen, in stressigen Situationen ruhig zu bleiben, statt in alte Reaktionsweisen zurückzufallen?

Es beginnt bei der Erkenntnis: Es ist nur ein Gefühl. Es geht wieder vorbei. In stressigen Momenten meinen wir manchmal, dass unser Leib und Leben bedroht sind und geraten deswegen leicht in einen Kampf- oder Fluchtmodus. Dabei gibt es in solchen Momenten eigentlich gar nichts zu tun, außer das Gefühl zu Ende zu fühlen. Das kann innerhalb von 90 Sekunden vorbei sein – es sei denn, wir wehren uns dagegen, dann bleiben wir im Gefühl stecken. Vielen meiner Klient:innen hat auch sehr das Gefühlsrad gefallen, also eine Übersicht, welche Gefühle es überhaupt gibt, um hier überhaupt erst einmal den eigenen Wortschatz zu erweitern. Ich rate jedem, sich so ein Gefühlsrad einmal anzuschauen, um einen differenzierteren Blick auf das eigene Innenleben zu gewinnen.

Sie bringen vielfältige Erfahrungen aus Kindergarten, Jugendpsychiatrie und Jugendamt mit. Inwiefern haben diese unterschiedlichen Perspektiven Ihre Sicht auf Elternschaft und die Inhalte Ihres Buches geprägt?

Diese Stationen haben mir gezeigt, wie stark elterliches Verhalten mit der eigenen Geschichte verknüpft ist – und wie wenig wir systemisch oft hinschauen. In der Jugendpsychiatrie habe ich erlebt, wie sehr Kinder unter unausgesprochenem Familienschmerz leiden. Im Jugendamt wurde mir bewusst, wie sowohl Eltern als auch Kinder nach Halt suchen, aber nicht sehr geübt sind im Umgang mit ihrem inneren Erleben. Ich habe erkannt: Wenn Kinder sich auffällig verhalten, soll uns etwas aufhalten und jedes Problem war erst eine Lösung. Familiensysteme balancieren sich immer bestmöglich aus. Diese Erkenntnisse haben mein Buch geprägt: Es will Eltern nicht bewerten, sondern stärken – mit Fachwissen, Menschlichkeit und Tiefe.

Elternratgeber gibt es viele. Was würden Sie sagen: Worin unterscheidet sich "Kindheit ohne Gepäck" von anderen Büchern über Erziehung und Familie?

"Kindheit ohne Gepäck" beleuchtet als eines der ersten Bücher überhaupt kindliches Symptomverhalten, also Auffälligkeiten wie starke Wutausbrüche, Schulprobleme oder Picky Eating im Kontext der Weitergabe transgenerationaler Traumata. Es zeigt die Verstrickungen auf, die in Form von dem "Normal" einer Familie, also üblichen Sätze, Gewohnheiten und Narrativen bis in die Gegenwart wirken – sowohl stärkend, als auch schwächend. Außerdem eröffnet es die nahezu magische Möglichkeit, sich durch die Genogramm- und Innere-Kind-Arbeit von altem Ballast zu befreien und damit die Familiengeschichte anders weiterzuschreiben, als der bisherige rote Faden vorgegeben haben mag.