Der Schauspieler Pedro Pascal ist der wohl stärkste Gegenspieler böser Mächte der Stunde. Nicht allein wegen seiner Rollen als Oberyn Martell in "Game Of Thrones", als schnurrbarttragender Agent Javier Peña in "Narcos", als Schwarzhändler Joel Miller in der Videospiel-Verfilmung "The Last Of Us" oder als Mr. Fantastic in der Marvel-Verfilmung "Fantastic Four: First Steps". Gefeiert wird der chilenisch-amerikanische Schauspieler auch wegen seines Rollenverständnisses als Mann in einer Welt, in der mächtige Männer gerade dessen Gegenteil propagieren.
Pascal verteidigt seine Schwester Lux gegen trans-feindliche Angriffe, hält bei einer Filmpremiere die Hand seines Schauspielkollegen, spricht offen über seine mentale Gesundheit, den Verlust seiner Mutter und seine Kindheit. Der kinderlose 50-Jährige wehrt sich nicht gegen seinen durch Memes verstärkten Ruf als "Daddy des Internets", sondern umarmt ihn mit selbstironischen Kommentaren wie "Ich bin dein cooler, schglampiger Vater."
Kurzum: Pascal reflektiert seine eigenen Gefühle, zeigt vermeintliche Schwäche und setzt sich für marginalisierte Gruppen ein – und lebt damit ein gegenteiliges Bild der toxischen Männlichkeit vor, die die Trumps, Tates und Merzes dieser Welt seit Monaten wieder erschreckend salonfähig machen. Sein Auftreten und Verhalten ist, eigentlich absurderweise, zu einem Phänomen avanciert. Sein verpasster Name: Tonic Masculinity.
Wo ist der Unterschied zwischen Toxic und Tonic Masculinity?
Der Begriff der toxischen Männlichkeit geistert seit Jahren durch Internet, Debattenkultur und Fachliteratur, und das leider zurecht. Gemeint ist ein Verhalten von Männern, das bestimmt ist von der Ausübung physischer und psychischer verbaler und nonverbaler Aggression, in der Regel gegenüber Frauen, die sich als vermeintlich schwächeres Geschlecht unterzuordnen hätten. Aber auch gegenüber Männern, die der angeblichen Norm nicht entsprechen. Dieses Verhalten wirkt sich toxisch, also giftig und gefährdend, auf ihr Umfeld aus. Darunter fällt nicht nur explizit toxisches (und durch individuelle Entscheidungen herbeigeführtes) Verhalten wie Androhung oder Durchführung von Gewalt oder Machtmissbrauch, sondern auch das fehlende Hinterfragen eigener Privilegien und patriarchaler Strukturen: Gehören Frauen wirklich in die Küche und Männer auf die Karriereleiter? Wieso ist Erziehung Müttersache?
Viele Männer erkennen zu spät oder gar nicht, dass sie damit auch sich selbst schaden. Das Gefühl, stets den starken Mann oder Ernährer spielen zu müssen und sich nicht rechtzeitig Hilfe zu suchen, führt auch abseits von Midlife Crisis zunehmend zu Stress, Frust, Suchtverhalten, Kriminalität, Depressionen oder Suizidgedanken. Denn, und diese Erkenntnis ist besonders wichtig: Das Benennen und Hinterfragen toxischer Männlichkeit ist in der Regel kein Akt des persönlichen Angriffs, sondern eine Form der Kritik an einer patriarchalen Gesellschaft, in der wir alle leben und sozialisiert wurden. Ob wir wollen oder nicht.
Definition: Was bedeutet Tonic Masculinity und wo kommt der Begriff her?
Als Gegenentwurf zur toxischen Männlichkeit taucht seit einigen Monaten vermehrt jener Begriff der Tonic Masculinity auf, der sich nur leidlich mit tonischer Männlichkeit übersetzen ließe. Tonic ist in dem Zusammenhang weder eine Anspielung auf den beliebten Drink mit Gin oder die gleichnamige Postgrunge-Band aus den späten 90ern, sondern soll soviel wie "belebend" oder "bestärkend" bedeuten. Tonic Masculinity bezeichnet ein positives Männlichkeitsverständnis: Statt Dominanz, Härte und Abgrenzung betont es Stärke in Verbindung mit Empathie, Fürsorge, Authentizität und Gemeinschaft.
Geprägt wurde der Begriff von dem Psychologen Miles Groth, Professor am Wagner College in New York. Er versteht darunter eine Form von Männlichkeit, die Harmonie zwischen den Geschlechtern wiederherstellen könne. Sein wissenschaftliches Essay "Tonic Masculinity In The Post-Gender-Era" beendet er mit dem Fazit: "Die vielbeschworene Dissonanz in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen wird meiner Meinung nach durch tonische Männlichkeit aufgelöst werden. (…) Männer werden mehr Zeit für kreative Arbeit haben. Wir haben bereits Beweise dafür in der Welt der sozialen Medien. (…)" Erste Erwähnung im popkulturellen Kontext fand der Begriff in einem Beitrag auf Medium.com. Seit 2024 hat er prominente Vertreter bekommen.
Neben Pedro Pascal ist Tim Walz, 2024 Vizepräsidentschaftskandidat der US-Demokraten, ein Gesicht dieses Trends. Seine in der Wahrnehmung vieler Menschen freundliche, bodenständige, zugleich kraftvolle Präsenz wurde vielfach als tonic masculinity bezeichnet und ging viral. Er gilt als Verkörperung eines positiven, unterstützenden, nicht-dominanten Männlichkeitsbildes. Auf X, Threads & Co. verbreitete sich der Hashtag #tonicmasculinity entsprechend. Expert:innen haben das Phänomen zusätzlich aufgegriffen: In „Psychology Today“ etwa wurde tonic masculinity im August 2024 ausführlich erklärt – unter anderem als Ausdruck eines Männlichkeitsverständnisses, das Tradition in Einklang bringt mit Empathie und Verwundbarkeit, verkörpert durch Figuren wie Walz oder den ehemaligen US-Verkehrsminister Pete Buttigieg. Selbst NFL-Footballstar Travis Kelce wird gerne mal als Beispiel genannt – einfach deshalb, weil er offenkundig kein Problem damit hat, dass seine Verlobte Taylor Swift noch viel erfolgreicher und berühmter als er selbst ist. Die Kehrseite solcher Perspektiven: Männer, die sich Frauen wirklich zurücknehmen, werden in dieser Erzählung mitunter gar nicht gesehen. Womit sie wiederum das selbe Schicksal mit den Millionen Frauen dieser Welt teilten, die ihren Männern den Rücken freihalten.
Warum der Begriff Tonic Masculinity wichtig ist
Nun, da wir verstanden haben, was Tonic Masculinity bedeutet und inwiefern er sich von Toxic Masculinity abgrenzt, drängt sich die Frage auf: Brauchen wir wirklich einen Begriff für eigentliche Selbstverständlichkeiten wie die, kein Arschloch zu sein und ein Mindestmaß an Empathie seinem Umfeld, Marginalisierten und sich selbst aufzubringen?
Die Antwort lautet: Leider ja. So wie sich durch den Begriff der toxischen Männlichkeit viele Männer zwar persönlich angegriffen fühlten, andere durch ihn aber erst dahinterstehende Probleme erkannt und darüber nachgedacht haben, so könnten sie sich alle nun aufrichtig eingeladen, in ihrer eigenen Zerrissenheit der Erwartungshaltungen ernstgenommen, abgeholt und motiviert fühlen. Der Zweck heiligt die Mittel. Besonders in Zeiten, da ein US-Präsident gegen jede Form von Inklusion, Diversität und Gleichberechtigung vorgeht (und ihm Arbeitgeber weltweit nachkommen), ein Bundeskanzler behauptet, wir arbeiteten zu wenig und Care-Arbeit nicht als solche kapiert sowie Jugendliche zunehmend erst online, dann auch offline in die offenen Arme von Männerrechtlern, Incels oder Rechten rennen. Damit Männlichkeit am Ende nicht mehr oder weniger als Menschlichkeit bedeutet.
Auch unsere Söhne profitieren von vorgelebter Tonic Masculinity
Davon profitierten idealerweise nicht nur die Männer, die – wie die meisten von uns – nicht Pedro Pascals Vorteile genießen, derart gut auszusehen und in ihrem Beruf ähnlich erfolgreich zu sein sowie Frauen, die plötzlich Typen gegenüberstehen, die nicht auf ihre Kosten den Alpha-Dude raushängen lassen. Nein, auch unseren Söhnen bescherten wir damit eine weniger stressige Zukunft. "Leider erleben viele Jungen schon früh, dass sie selbstständig sein sollen", erklärt Buchautorin Anne Dittmann beispielhaft im Interview mit Edition F., die kürzlich das Buch "Jungs von heute, Männer von morgen" veröffentlicht hat. "Selbstständigkeit ist eine tief verankerte Männlichkeitsnorm. Nach Hilfe zu fragen, wird ihnen nicht beigebracht – was absurd ist, denn wir alle nehmen als Erwachsene ständig Hilfe in Anspruch: Wir beantragen etwas beim Amt, zahlen in die Krankenkasse ein, rufen Freund:innen an. Kein Mensch lebt komplett unabhängig – das ist eine Illusion."
Podcast-Tipp: Unsere Expertin war übrigens auch schon mal zu Gast in unserem Papa-Podcast, hier geht's zum Gespräch:
Daraus wiederum resultiere, so Dittmann, dass Jungen früh lernten, sich abzukoppeln, um unverbunden und nicht auf andere angewiesen zu sein. Studien zeigten, dass Jungen tatsächlich weniger resilient als Mädchen seien – gerade in Krisenzeiten. Sie blieben öfter allein und hätten seltener enge Bezugspersonen, zu denen sie sagen könnten: ‚Ich habe ein Problem. Ich weiß nicht weiter.’
Auch das Thema Freundschaft spiele eine Rolle: "Viele Jungen lernen nicht, sich emotional mitzuteilen – selbst nicht bei engen Freunden. Das Eingeständnis, nicht weiterzuwissen, wird als persönliches Scheitern empfunden", sagt Dittmann. Sie führt aus: "In der männlichen Norm gilt: Ein Mann ist eine Führungsperson. Ein Held, der weiß, was zu tun ist. Wenn du das nicht kannst – dann bist du, in diesem Denkmuster, kein richtiger Mann mehr. Und genau das ist das Problem."
Fazit: Tonic statt Toxic Masculinity
"Wenn wir unsere Söhne im Sinne traditioneller Männlichkeitsnormen erziehen, dann führen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein unglücklicheres, ungesünderes und oft auch kürzeres Leben", sagt Expertin Dittmann Und das kann ja nun wirklich niemand wollen. Nicht mal der Mann und Vater, dem sein eigenes Wohlbefinden und das seines erwachsenen Umfelds mutmaßlich noch immer zu egal ist. Um ihn nicht gleich wieder toxisch zu nennen.