Eins, zwei oder drei? Ab welchem Alter sollte ein Kind eigentlich in die Kita gehen? "Gar nicht", sagt Witalij Deifel aus Lübeck, der seit einigen Jahren als Väter-Coach arbeitet.
Er erzählt: "Als wir Eltern wurden, entschieden meine Frau und ich: Unsere Kinder sollen mehr Nähe und Bewusstsein erfahren. Gemeinsame Zeit war uns wichtig. Ich wollte nicht wie viele Väter sein – auch wie meiner: abwesend, ständig am Arbeiten. Ich wollte präsent und begleitend sein. Corona bestärkte uns: Wir gaben unser Kind nicht in fremde Hände, wenn das Umfeld unsicher ist. Wir wollten zeigen, dass Kinder auch ohne Kindergarten stark und gesund aufwachsen können." Wie das gelingen kann, erklärt der Vater von zwei kleinen Kindern im Interview mit Men's Health Dad.
Was bedeutet kita-frei für dich persönlich – und welche Missverständnisse begegnen dir in Gesprächen darüber am häufigsten?
Kita-frei ist ein klares Konzept, in der Gesellschaft aber wenig akzeptiert. Oft begegnen uns Skepsis, Halbwissen und Vorurteile. Die Kita gilt als Standardmodell – doch sie ist nicht der einzige Weg, und auch dort gibt es Nebenwirkungen, über die kaum gesprochen wird. Ein Missverständnis: Kita-frei heißt nicht Vernachlässigung. Im Gegenteil – wir gestalten den Alltag bewusst und entscheiden, welchen Einfluss wir zulassen. Für uns bedeutet das mehr Verantwortung: Wir achten auf soziale Kontakte und wählen aktiv, wann und wie Begegnungen stattfinden. So begleiten wir unser Kind individuell statt es einem System zu überlassen.
Wie sieht ein typischer Tag bei euch aus – zwischen Eigenständigkeit des Kindes, Arbeit und Familienleben?
Unser Tag startet entspannt, meist zwischen 6 und 7 Uhr mit gemeinsamem Frühstück. Dort besprechen wir, wer mit welchem Kind wohin geht und teilen Termine sowie Betreuung flexibel auf. Danach folgen Aktivitäten wie Treffen, Ausflüge oder kleine Abenteuer. Die Woche hat Struktur, aber auch Raum für Spontanität. Zwischen Mahlzeiten geben Rituale Halt, abends gehört ein ruhiges Einschlafritual dazu. Das Jüngste wird noch gestillt, weshalb meine Frau oft mit einschläft. Ich selbst bin abends zu müde für Projekte. Mein Tag endet meist mit den Kindern, da ich um drei Uhr morgens aufstehe, arbeite und dann präsent bin, sobald die Familie aufwacht.

Väter-Coach Witalij Deifel
Kritiker sagen oft, Kinder verpassen ohne Kita wichtige Sozialerfahrungen. Wie gestaltet ihr diesen Aspekt im Alltag?
Kita-frei heißt nicht, dass wir unser Kind isolieren. Es bedeutet, bewusst zu gestalten, wie es soziale Erfahrungen sammelt. Oft hört man: "Kinder brauchen andere Kinder, sonst werden sie asozial." Doch bis etwa zum dritten Lebensjahr sind vor allem Eltern und enge Bezugspersonen wichtig. Wir wollen ein stabiles Fundament mit Bindung und innerer Stärke schaffen, bevor äußere Einflüsse wirken. Ein Vergleich: Vegetarier verhungern nicht, sie achten bewusster auf ihre Ernährung. Genauso gestalten wir soziale Erfahrungen aktiv, statt sie einem Standard-System zu überlassen. Es geht nicht darum, Kita abzuwerten. Viele Eltern haben keine Wahl, weil beide arbeiten müssen. Das zeigt: Kita ist auch ein gesellschaftliches Thema – nicht nur eine Frage des Kindeswohls. Wir achten deshalb bewusst auf die Bedürfnisse unserer Kinder: keine Reizüberflutung, keine Dauerbespaßung, sondern Raum, Verständnis und Zeit.
Welche Lern- und Entwicklungsräume eröffnen sich eurer älteren Tochter durch den kitafreien Alltag, die sie in einer Kita vielleicht nicht in dieser Form hätte?
Anfangs war es für uns ein bewusstes Experiment, gerade in der absurden Corona-Zeit. Rückblickend zeigt sich: Die Kritik war unbegründet. Unser Kind ist stark, empathisch, kommunikativ und sozial kompetent – es kann Kontakte knüpfen, führen und dabei feinfühlig bleiben. Das Wichtigste: Wir haben eine enge Verbindung. Durch die gemeinsame Zeit lernen und wachsen wir miteinander. Für mich als Vater hieß das, fast jeden Schritt mitzuerleben – auch wenn ich dafür meine Arbeit umstrukturieren musste. Ein weiterer Effekt: Unsere Kinder sind fast immer gesund. Kita-Kinder bringen oft Krankheiten mit, verursacht durch zu viele Kinder auf zu wenige Pädagogen – Stress und Überforderung inklusive. Unsere Kinder wachsen frei von diesem Druck auf. Unser Fazit: Sie entwickeln starke Bindung, emotionale Stabilität und soziale Stärke – bereit für Begegnungen, ohne innere Sicherheit zu verlieren.
Welche Veränderungen in deiner Rolle als Vater hast du durch das kitafreie Aufwachsen besonders stark gespürt?
Kita-frei bedeutet Verantwortung und hohe Präsenz. Diese schafft tiefe Verbundenheit mit meinen Kindern und meiner Frau. Ich bin nicht am Rand, sondern Teil von Planung, Aufgaben, Höhen und Tiefen. Ich erlebe Freude wie auch Wut oder Trauer – und halte den Raum, ohne mich zu verlieren. Die Nähe macht deutlich, wie wichtig meine Vorbildrolle ist. Kinder orientieren sich an Taten, nicht Worten. Sie sehen meine Stärken wie auch Schwächen. Weil ich ihre Emotionen direkt miterlebe, muss ich lernen, meine eigenen zu führen. Das fordert Klarheit, innere Stabilität und Bewusstsein. Kurz: Kita-frei zeigt mir, dass Vaterschaft keine Nebenrolle ist, sondern eine aktive, präsente Verantwortung.
Wo stößt du in diesem Lebensmodell an Grenzen – organisatorisch, emotional oder gesellschaftlich?
Organisatorisch stoßen wir oft an Grenzen, da das System auf frühe Kita-Betreuung ausgelegt ist. Dafür gibt es Strukturen und Unterstützung – für Familien wie uns kaum. Ohne Großeltern begleiten wir unsere Kinder weitgehend allein. Das erfordert klare Organisation, ständiges Teamwork und macht Auszeiten schwierig. Auch emotional ist es herausfordernd: Vormittags sind wir meist allein auf Spielplätzen, Kontakte entstehen schwerer. Der subtile Druck, "anders" zu sein, verstärkt die Belastung. Deshalb suchen wir aktiv nach Wegen, unseren Kindern Freundschaften und Aktivitäten zu ermöglichen. Gesellschaftlich ist es am härtesten: In Deutschland gilt Arbeit als wertvoll, Elternsein dagegen oft nicht. Ich habe das selbst erlebt, als ich beim ersten Kind zu Hause blieb. Diese fehlende Anerkennung war schmerzhaft. Wir wünschen uns deshalb mehr Offenheit für Vielfalt in Familienmodellen – weniger Schubladendenken, mehr Akzeptanz.
Wie hat euer Freundes- und Familienkreis auf eure Entscheidung reagiert? Gab es Unterstützung oder eher Skepsis?
Als Erste in unserem Umfeld stießen wir anfangs auf viel Skepsis statt Unterstützung. Es gab Fragen und Sorgen, oft aus Unwissen oder Angst: "Ist das wirklich das Beste für euer Kind?" Statt Akzeptanz fühlten wir uns kritisch beobachtet – was es noch schwerer machte. So wird verständlich, warum viele trotz innerem Wunsch dem Mainstream folgen: Der gesellschaftliche Druck ist enorm, man fühlt sich schnell ohne Wahl. Nach 5 Jahren haben wir Freunde gefunden, die uns akzeptieren. Wir selbst sind gefestigt und lassen uns nicht mehr so leicht verunsichern.
Was wünschst du dir von Politik und Gesellschaft im Hinblick auf mehr Akzeptanz oder Unterstützung alternativer Betreuungsformen?
Mir geht es um Akzeptanz und Offenheit. Unterstützung gibt es fast nur für den Kita-Weg, dabei ist er nicht der einzige. Früher war Betreuung vielfältiger – heute gilt Kita als Standard, aber nicht als alternativlos. Die Erwartung, dass Eltern – vor allem Mütter – früh wieder arbeiten, führt oft zu verfrühter Fremdbetreuung. Dabei brauchen Kinder bis etwa 3 Jahre vor allem stabile Bindung zu Eltern oder engen Bezugspersonen. Diese ist entscheidend für ihre Entwicklung. Familienarbeit verdient mehr Wertschätzung – unabhängig davon, ob Eltern Geld verdienen oder zu Hause bleiben. Statt Wertlosigkeit sollte Anerkennung vermittelt werden. Ich wünsche mir mehr Angebote für Kita-freie Familien: Gruppen, Workshops, Unterstützung – und Aufklärung, dass alternative Wege ebenso wertvoll sein können. Familie ist individuell.
Wenn du in ein paar Jahren zurückblickst – welche Spuren soll das kitafreie Aufwachsen bei deiner Kinder hinterlassen haben?
Nach fast 5 Jahren zeigt sich: Viele Befürchtungen waren unbegründet. Statt Isolation sind unsere Kinder emotional stabil, sozial aktiv und knüpfen leicht Kontakte. Sie sind offen, neugierig, mitfühlend und zeigen Führung mit Herz. Wir konnten ihnen Stabilität, Präsenz und ein starkes Fundament geben – für Selbstbewusstsein, Empathie und soziale Kompetenz.





