Kommt das Kind in die erste Klasse, übernimmt künftig die Schule einen Großteil der Erziehung und Bildung. Das denken nicht nur viele Väter, auch die Wissenschaftsjournalistin Nicola Schmidt, Mutter von zwei Teenagern, hatte vor ein paar Jahren diese Erwartungshaltung. Dabei hätte es die Expertin schon damals besser wissen müssen, schließlich schreibt sie seit Jahren erfolgreich Erziehungsratgeber und hat im Jahr 2008 das Artgerecht-Projekt gegründet, das wissenschaftsbasiert arbeitet und Kurse für Eltern und Fachkräfte anbietet. Jetzt hat die Bestsellerautorin ein Buch für Eltern von Grundschulkindern geschrieben: in "artgerecht – Das andere Schulkinder-Buch" beschäftigt sie sich unter anderem mit gängigen Mythen zum Thema. Im Interview mit Men's Health Dad verrät sie, welches die größten Fehlannahmen von Eltern sind und wie Väter ihre Kinder gut in der Schule begleiten können.
Was sind denn die größten Fehlannahmen über Kinder. Was machen wir mit ihnen, das nicht artgerecht ist?
"Wir unterschätzen total, wie viel Natur und Bewegung Kinder brauchen. Unsere Kinder sind ständig in geschlossenen Räumen und sollen dort ewig still sitzen, das ist nicht artgerecht. In der Schule werden sie mit Gleichaltrigen in einer Gruppe von einem Lehrer oder einer Lehrerin unterrichtet. Dafür sind wir gar nicht gemacht. Kinder sollten eigentlich in gemischten Gruppen etwas voneinander lernen."
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Ihr Kind in die Schule kam und Sie erwartet hatten, dass die Schule jetzt einen großen Teil der Erziehung und Bildung übernimmt. Warum war es genau nicht so?
"Wir Eltern denken: Jetzt haben wir es geschafft, das Kind kommt in die Schule. Aber das menschliche Gehirn ist erst mit 21 Jahren voll entwickelt. Unser Problem ist, dass wir zu viel mit unseren Kindern allein sind und zu wenig Unterstützung haben. Deshalb fragen wir uns ständig, wann sie endlich groß sind. Eigentlich müssten wir uns fragen, wo denn dieses Dorf ist, das mit uns diese Kinder großzieht, dann hätten wir auch nicht diesen Druck, dass es jetzt endlich geschafft sein muss."

Nicola Schmidt
Sie verwenden den Begriff des 'Fullservice-Parenting'. Was genau meint das? Und wann muss ich das machen?
"Ein Gehirn lernt dann, wenn es nicht unter Stress steht. Wenn das Kind gerade Stress hat, weil es morgens sein Lieblings-T-Shirt nicht findet, dann kann man noch so oft sagen, dass es ruhig bleiben soll. Das Kind kann das in dieser Situation nicht lernen. In dieser Situation machen es sich die Eltern noch schwieriger, wenn sie versuchen, einem gestressten Kind etwas beizubringen. Es dauert einfach länger. Wenn das Gehirn nicht lernbereit ist, bekommen meine Kinder von mir 'Fullservice-Parenting'. Ich hole und bringe, was sie brauchen, helfe beim Anziehen, auch wenn sie das eigentlich selbst können. Und wenn das Kind sich beruhigt hat, erst wenn das Gehirn wieder lernbereit ist, dann lernen wir das zusammen. Das ist der Trick. Konsequent heißt, sich konsequent nach der Verfassung des Kindes zu richten. Ist das Kind in schlechter Verfassung, heißt das 'Fullservice-Parenting', ist das Kind in guter Verfassung, heißt das, dass wir Regeln einhalten."
Ihr Buch hat an vielen Stellen ganz konkrete Tipps für Eltern von Schulkindern. Einer heißt 'Drei Mal am Tag da sein', können Sie kurz erklären, wie das funktioniert und warum es wichtig ist?
"Wenn wir im Stress sind, schalten wir auf Autopilot. Wir sind dann nicht höflich oder freundlich, wir sorgen einfach dafür, dass wir unsere Sachen geriegelt kriegen. Das Problem ist, dass wir als Eltern ständig unter Stress stehen. Wir gehen zwar durch unseren Tag, aber wir fühlen es nicht mehr. Wir fühlen auch unsere Kinder nicht mehr. Dreimal am Tag heißt: Jeden Morgen das Kind freundlich zu begrüßen. Das zweite Mal ist, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen. Sie sind dann voller Geschichten und wir können für sie da sein. Und als Drittes, wenn die Kinder ins Bett gehen, können wir auch bei ihnen sein."
Sie weisen Eltern auf diverse romantisierte Vorstellungen von Schule hin, zum Beispiel 'Eine Klasse ist wie eine große Familie', warum stimmt das nicht? Welche falschen Vorstellungen haben Eltern noch?
"Eine Fehlannahme ist, dass Lehrkräfte sehr viel Zeit hätten, sehr individuell auf die Kinder einzugehen. Viele versuchen das, aber wenn sie dreißig Kinder in der Klasse haben, viele davon mit Integrationsbedarf, dann wird mit einer engen Personaldecke schwierig. Wir können das nicht der Schule überlassen. Ich sage auch niemals: Jetzt beginnt der Ernst des Lebens, jetzt muss Leistung gezeigt werden. So erzeugen wir Druck, aber Schule sollte ein Spiel sein, lernen sollte Spaß machen. Das heißt nicht, dass Kinder keine Disziplin lernen sollten, aber ich erreiche das nicht mit Druck."
Sie schreiben, es gehe in der Schule um Persönlichkeitsentwicklung mithilfe von Menschen, die ihnen wohlwollend begegnen. Wie passt das in unser Schulsystem, mit Noten, Zeugnissen, Klassenstufen und dem Ziel, möglichst viel zu lernen?
"Lernen ist definitiv wichtig und richtig. Aber unser Schulsystem kommt aus dem Industriezeitalter, in dem wir dachten, Kinder sollten im selben Alter dasselbe lernen. Aber das funktioniert nicht. Ich sage nicht, dass das Schulsystem grundsätzlich schlecht ist. Es gibt Kinder, die funktionieren in dem System sehr gut, sie mögen die Noten und alles, was damit zusammenhängt. Für andere Kinder ist das sehr schwierig. Wir bräuchten ein Schulsystem, in dem jedes Kind das bekommt, was es braucht. Es gibt viele gute Ansätze, schwierig wird es, wenn wir alle Kinder über einen Kamm scheren. Was uns außerdem fehlt, ist ein Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis. Andere Länder sind da viel weiter."
In Ihrem Buch steht, Eltern sollten die Hausaufgaben nie zwischen sich und dem Kind kommen lassen. Das machen viele Eltern anders. Sollen wir Eltern uns wirklich nicht darum kümmern, dass das Kind die Hausaufgaben macht?
"Natürlich kümmern wir Eltern uns. Wenn wir das Kind damit allein lassen, bekommt das Kind am nächsten Tag eine schlechte Note und Ärger. Kinder müssen erst lernen, sich selbst zu organisieren. Die Wissenschaft sagt: Begleiten Sie das Kind, aber bauen Sie keinen Druck auf. Ich habe das mit meinen Kindern so gemacht: Wir rechnen solange diese Aufgaben, bis ich das Gefühl habe, dass du es kannst und den Rest machen wir mit dem Taschenrechner. Und wenn das Hausaufgabenpensum zu viel für unser Kind ist, können wir Eltern mit der Lehrkraft auch darüber reden."
Beobachten Sie Unterschiede zwischen den Erwartungen von Müttern und Vätern an ihre Schulkinder? Gibt es etwas, dass vor allem Väter wissen sollten?
"So pauschal kann man das nicht sagen. Ich sehe in meiner Arbeit viele Eltern, die mit Druck arbeiten, andere sind ganz sanft mit den Kindern. Das kommt sehr darauf an, wie man selbst erzogen worden ist. Wenn ich selber ein schwieriges Männerbild habe, tendiere ich dazu, meine Söhne nach diesem schwierigen Männerbild zu erziehen. Toxische Männlichkeit hat viel mit Kraft, mit Druck, mit Durchhalten und Hartsein zu tun. Aber ich kenne auch ganz viele Frauen, die mit Druck arbeiten – das hat nichts mit Geschlecht zu tun."
Fazit: Bestnote für Papa
"Der Wechsel in die Schule verändert das Leben der Familien extrem", sagt Nicola Schmidt. "Sie müssen um acht Uhr da sein. Sie können nicht einfach eine Woche zu Hause bleiben. Die Kinder müssen sich organisieren lernen, ständig an irgendwelche Sachen denken, die sie mitbringen müssen." Abschließender Tipp der Expertin: "Wenn wir den Anfang gut begleiten, können wir da alle langsam hineinwachsen."