Der Brite Ricky Gervais, seit seinen "Golden Globe"-Moderationen gefürchtetster Stand-Up-Comedian der westlichen Welt, hat hinter all seinen doppelbödigen Witzen immer auch einen Spiegel parat. Keinen physischen, nein: "Natürlich gibt es auch lustige weibliche Comedians", behauptet er etwa in seinem Bühnenprogramm "Armageddon". "Zum Beispiel…" Pause. Kein Name. Angebliches Nachdenken. Gelächter im Publikum. Einigen bleibt es im Halse stecken. Die Zuschauer:innen lachen (hoffentlich) nicht, weil es ihnen gefällt, dass Männer in vielen Bereichen zwischen Kunst und Kapital so viel präsenter als Frauen sind. Sondern weil Gervais ihnen diese zu oft kaum hinterfragte Schieflage, rhetorisch und vom Timing her gekonnt, vorhält und damit beiläufig beweist, dass wir in einem Patriarchat leben, von dem Typen wie er profitieren. Unvorstellbar, dass in einem Matriarchat der Witz umgekehrt funktionieren müsste? Spiegel!
Definition und Bedeutung: Was ist ein Matriarchat?
Matriarchat bedeutet erst einmal so viel wie eine Gesellschaftsordnung, die vorrangig von Frauen geprägt ist. Eine eindeutige, wissenschaftlich anerkannte Definition existiert nicht. Der seit dem 19. Jahrhundert oft verwendete Begriff Mutterrecht führt auf eine falsche Fährte. Erstens lässt er sich in der Matriarchatstheorie auf einen Gesellschaftstyp zurückführen, der nicht unterscheidet, ob Mütter im Speziellen oder Frauen im Allgemeinen gemeint sind. Zweitens lässt der Zusatz "Theorie" erahnen, was Religionswissenschaftlerin Birgit Heller bereits 1997 im "Lexikon für Theologie und Kirche" feststellte: Das Matriarchat ließe sich "als Mutterherrschaft spiegelbildlich zum Patriarchat historisch nicht nachweisen".
Zwar besagen andere Matriarchatstheorien, dass in der Menschheitsgeschichte etwa die Jungsteinzeit in Europa und Vorderasien matriarchal geprägt gewesen sei, es habe von dort aus und in anderen Kulturen also durchaus historische Matriarchate gegeben. Halten lassen sich diese Theorien mangels archäologisch oder anderswie eindeutiger Beweise aber nicht. Auch eine in Ethnien wie den Minangkabau (Sumatra), den Tuareg (Nordafrika) oder den Irokesen (Nordamerika) erkannte sogenannte Matrilinearität – ein System, in dem Verwandtschaftsbeziehungen, Erbe, Ansehen, Ämter und so weiter ausnahmslos einlinig von Müttern an Töchter weitergegeben werden und auch Söhne den Nachnamen der Mutter übernehmen – ist mit einem Matriarchat nicht gleichzusetzen.
Kulturanthropologin Ingrid Thurner argumentiert in einem Essay für "Der Standard", dass diese Minderheiten ein marginalisiertes Dasein führten, oft Muslime seien, Kolonialmächte in ihren Lebensräumen ihre Ideen hinterlassen und sie deshalb unter dem Einfluss patriarchaler Systeme stünden. So sei es dort oft ein Bruder der Mutter, der im Alltag entscheide und die exekutive Macht an sich reiße. Eine historische Existenz des Matriarchats, so Thurner, gaukelten sich Teile des Feminismus demnach lediglich vor – und dass der Feminismus das tue, sei schon wieder ein Erfolg des Patriarchats, ein gönnerhaftes "Sie im Glauben lassen". Die Wissenschaftlerin stellt fest: "Zu keiner Zeit und an keinem Ort der Welt gab es – nach gegenwärtigem Forschungsstand – eine Machtkonstellation, in der Frauen oder Mütter geschlechterexklusiv die politische Macht innegehabt hätten. Nie und nirgends gab es – in einer Art spiegelverkehrtem Patriarchat – in aller Selbstverständlichkeit, die niemand zu hinterfragen auf die Idee gekommen wäre, ausschließlich weibliche Entscheidungskompetenzen, Spitzenkräfte und Beraterstäbe."
Ein Matriarchat soll das Patriarchat nicht ablösen
Falls am Stammtisch ob dieser Ansage nun einer blökt: "Ey, bei mir zu Hause herrscht jeden Tag Matriarchat, meine Frau hat die Hosen an!" – nein, Manfred. Wenn es so wäre, wäre deine Frau gar nicht zu Hause, wenn du von der Maloche oder aus der Kneipe kommst! Und weil außerhalb von "Barbieworld" in Greta Gerwigs Patriarchats-Satire "Barbie" – übrigens ein Film, dem Kritiker:innen teilweise vorwarfen, "Barbie"-Hersteller Mattel wolle sich damit von Vorwürfen des Sexismus, Anti-Feminismus und Body-Shamings reinwaschen – auch in unserer Gegenwart kein Matriarchat existiert, weder in Deutschland, anderen europäischen Ländern noch sonst wo auf der Welt, erübrigen sich fast alle weitere Fragen wie: Wo gibt es heute ein Matriarchat? (Im Kino). Wann gab es das Matriarchat? (Nie). Wie funktioniert das Matriarchat? (Theoretisch so wie das Patriarchat, nur mit Frauen statt Männern). Was ist der Unterschied zwischen Patriarchat und Matriarchat? (Die eine Gesellschaftsform existiert, die andere nicht).
Falls Männer wie Manfred dennoch beunruhigt sind, dass die Frauen, wenn schon nicht die Ausländer, ihnen eines Tages ihr Geld, ihre Jobs, ihr Ansehen und ihre Privilegien wegnehmen: Habt keinen Grund zur Sorge. In einem Interview relativierte Patriarchatskritikerin und Buchautorin Alexandra Zykunov ("Wir sind alle längst gleichberechtigt!") einst: Selbst Feministinnen, wie sie eine ist, wünschten sich zwar ein Ende des Patriarchats, an das sich aber kein 1000-jähriges Matriarchat, also die weibliche Vorherrschaft anschließen solle, "das kann auch niemand wollen". "Wir wollen Gleichberechtigung und Mitdenken aller Geschlechter und marginalisierten Gruppen", sagt sie.
Warum es sich trotzdem lohnt über das Matriarchat nachzudenken
Bis diese eines fernen, möglicherweise utopischen Tages eintritt, lohnt es sich, über den Status quo zu diskutieren. Emilia Roig etwa erklärt in ihrem Buch "Das Ende der Ehe", warum selbst Hochzeiten streng genommen Folgen des patriarchalen Bestrebens sind, Frauen klein und in Abhängigkeit zuhalten. So wäre es ein kleiner Anfang, als Frau nicht mehr den Familiennamen des Mannes anzunehmen und das Ehegattensplitting und all die anderen gesellschaftlichen und finanziellen Vorteile von verheirateten Paaren abzuschaffen. Damit Abhängigkeiten sich nicht selbst aufrechterhalten.
Auch über Sprache lohnt es sich nachzudenken, zum Beispiel über historisch gewachsene Begriffe wie "Vaterland" und "Muttersprache", über das zum Glück überholte "Fräulein". Wer sich in der Theorie ausführlicher mit dem Matriarchat beschäftigen möchte, dem oder der sei das Buch "Das Paradies ist weiblich" empfohlen, eine von Tanja Raich herausgegebene Textsammlung. In ihrem Literatur-Blogazine "The Female Reader" urteilt Imke Weiter darüber: "Auch wenn die weibliche Alleinherrschaft vielleicht keine paradiesischen Zustände schaffen würde, so zieht man doch einiges an Inspiration aus diesem Sammelband – ich wusste zum Beispiel vorher nicht, dass der Clownfisch sein Geschlecht wechseln kann. Aber nicht nur die Tierwelt wird beleuchtet, die Autor:innen versuchen auch, menschliche Matriarchate aufzuspüren (was sich als nicht ganz einfach herausstellt) oder sie zu erfinden. (…) Wollte man eine Conclusio ziehen, dann wohl am ehesten in die Richtung, dass das Matriarchat nicht die ideale Form darstellt, sondern dass wir eine Welt ohne Hierarchien brauchen, die alle Herrschaftsprinzipien hinter sich lässt und in der jede:r frei von Unterdrückungsverhältnissen leben kann."
Und Männern, die nach einer Trennung im Streit zum Beispiel wegen Sorgerechts-, Unterhalts- und Umgangsrechtsfragen dem Eindruck erliegen, Frauen hätten die absolute Macht, sei gesagt: In einer gleichberechtigteren Gesellschaft würde es zu einem derartigen Gefälle gar nicht kommen. Je größer und anhaltender statistisch nachweisbare Lücken in puncto Einkommen, also Gender-Pay-Gap, und Haus- und Erziehungsarbeit, also Gender-Care-Gap, klaffen, umso naheliegender erscheint es weiterhin, dass Familiengerichte im Zweifel den Müttern mehr Rechte und den Vätern mehr Pflichten einräumen. Selbst wenn dies im Einzelfall ungerecht erscheinen mag, ein Einzelner nur ungern zum Wohle aller einen Schritt zurücktritt – und oftmals auch nicht erkennen will, dass eine gleichberechtigtere Aufteilung aller familiären Aufgaben schon während der Beziehung vielleicht dafür gesorgt hätte, dass eine Trennung einvernehmlicher geschehen könnte.
Ricky Gervais beendet seine von Netflix für gewiss sehr viel Geld lizenzierte Show mit einer fortschrittlich gedachten Selbsterkenntnis: "Ich glaube, ich bin woke", sagt er, "aber die Bedeutung des Wortes hat sich verändert. Wenn woke weiterhin hieße, sich seiner Privilegien bewusst zu sein, Gleichheit zu maximieren und Unterdrückung zu minimieren, gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie zu sein, ja, dann bin ich definitiv woke. Wenn es aber wie heutzutage oft vielmehr bedeutet, ein puritanischer autoritärer Bully zu sein, der Menschen wegen Äußerung einer ehrlicher Meinung oder sogar wegen eines Faktes feuert, nein, dann bin ich nicht woke. Fuck that."
Solange einer wie er noch Witze machen und alles sagen kann, was er will und dabei nicht merkt, dass er trotz seines ewigen Pochens auf "Humor und Satire dürfen alles" durch Witze über etwa Homophobie selbst homophob agiert, muss kein Mann Angst haben, dass das Matriarchat seinen Status unmittelbar bedrohen würde. Obwohl das Patriarchat ja auch ihm, also dem Mann als solchem, nicht Gervais im Speziellen, nicht ausschließlich guttut.