Kaum hat ein Kind sprechen gelernt, entdeckt es auch schon ein machtvolles Wort für sich: "Nein"! Oder auch drei: "Ich will aber!" Willkommen in der Autonomiephase, die früher auch gerne als Trotzphase bezeichnet wurde.
"Sehr typisch für diese Phase sind Wutanfälle, oftmals auf beiden Seiten", sagt der Diplom-Pädagoge und Bestsellerautor Matthias Jung, der auch ein eigenes kabarettistisches Bühnenprogramm hat. Seine persönliche Allzweckwaffe für ausweglose Situationen: Humor. Im Interview mit Men's Health Dad verrät er, was sonst noch hilft, um gelassen durch die Autonomiephase zu kommen.
Matthias, was ist die Autonomiephase und warum ist sie so wichtig?
Du hast die Banane in der Mitte zerbrochen, den Toast falsch durchgeschnitten, in der Kita als Erstes die Tür geöffnet, und, und, und. Wenn solche Situationen einen krassen Wutanfall bei deinem Kind auslösen, darfst du das prinzipiell sogar abfeiern. Denn dann ist sie da: die Trotzphase – oder wie ich sie gerne nenne: die Trotz(dem lieb)-Phase – also die erste Unabhängigkeitserklärung deines Kindes. Dabei lernen wir unser Kind besser kennen und unser Kind sich selbst. Eine große Ehre: Wir sind live dabei. Wir tragen das VIP-Bändchen. Und merken schnell: Es ist ein Lebensrecht unserer Kinder, ihre Meinungen, Haltungen und Bedürfnisse zu formulieren. Auch zu einem simplen Toastbrot. Denn sind wir ehrlich: Gerade die Gefühle zu bestimmten Themen machen unser Kind letztlich einzigartig. Es erlangt ein 'Standing' und weiß nun, dass es gehört werden darf. Wir begleiten diese Gefühle. Das ist sehr fordernd. Aber so ist das als Eltern: Wir dürfen stolz wie Oskar sein, bekommen aber keinen. Die Königsdisziplin des Elternseins ist Annehmen-Können. Wir sind keine perfekten Eltern. Aber wenn wir das begreifen, werden uns unsere Kinder spiegeln, dass wir sehr nah dran waren.

Pädagoge und Comedian Matthias Jung
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Autonomiephase und Trotzphase?
Ich finde diese Diskussion um diese Begrifflichkeit immer eine sehr pädagogische. Den meisten Eltern ist es egal. Aber ich will natürlich trotzdem kurz die Frage beantworten: Die Trotzphase ist mit dem Begriff 'Trotz' negativ behaftet. Das sagt eigentlich aus, dass das Verhalten des Kindes nicht in Ordnung ist. Aber alle Gefühle sind Ordnung. Auch die lauten. Sie machen eine Person einzigartig. Im Gegensatz achtet aber da die 'Autonomie' doch mehr auf den Selbstwert und auf die Selbstwirksamkeit unserer Kinder.
In welchem Alter findet die Autonomiephase statt und wie lange dauert sie?
Das erste Absetzen beginnt schon früh: Nach knapp anderthalb Jahren kommt bereits der eigene Wille langsam zum Vorschein. Die Ich-Werdung und Suche nach der Persönlichkeit beginnen. Unsere Kinder nehmen auf einmal zwei Worte in den Mund, die uns Eltern so gar nicht zusagen: 'Nein' und 'Ich'. Sie wollen jetzt viel 'alleine'. Es ist die kleine Pubertät, die dann mit fünf Jahren von der Wackelzahnpubertät abgelöst werden kann. Wir erziehen ab jetzt fleißig immer der Phase nach, bis wir zum Endgegner, der großen Pubertät, angekommen sind. Ein ewiger Kreislauf mit der schlechten Laune der Natur: meinem Kind.
Wie gehe ich mit der Autonomiephase meines Kindes um? Was hilft bei einem Tobsuchtsanfall?
Um 8:30 Uhr müssen wir in der Kita sein. Um 8:15 Uhr stehen wir endlich fertig angezogen an der Wohnungstür. Dann stelle ich meiner Tochter die falschen Schuhe hin. Die Folge: eine verbale Kernschmelze. Sie rastet aus, läuft zurück in ihr Zimmer und zieht sich wieder aus. Komplett auf Werkseinstellung zurück. Da kann man noch so viele Bücher geschrieben haben, da ist man sowohl als Pädagoge als auch als Vater sehr hilflos. Wir achten bei solch einem Sturm am besten erst einmal auf uns. Dann sind wir schnell für das Kind da. Die Hirnforschung weiß: Je ruhiger wir beim Wutanfall bleiben, desto ruhiger wird unser Kind! Wir bieten Sicherheit und Nähe an. Manche Kinder mögen dies in so einer Situation nicht, es gehört aber zu unserem Eltern-Basistarif dazu, zur Grundausstattung unserer Liebe. Aber oft ist auch wenig tun zu können zwar schwer zu ertragen, aber auch vollkommen in Ordnung. Das olympische Motto gilt auch für Eltern: Dabei sein ist alles. Ich war auch oft in solchen Situationen nur der Rückenstreichler.
Podcast-Tipp: Pädagoge Matthias Jung war auch schon mal Gast in unserem Papa-Podcast, hier geht's zum Gespräch:
Bei allen gut gemeinten Ratschlägen: So supereasy wird es dann doch nicht, oder?
Wir dürfen auch ehrlich sein! Es wird anstrengend. Denn die Grundvoraussetzungen sind recht herausfordernd: Perspektivwechsel sind noch schwierig (unser Kind denkt immer, wir könnten Gedanken lesen und alles wissen), ebenso Selbstregulation und Impulskontrolle. In dieser Hirnregion sind noch die Rollladen runter, dafür hat der emotionale Part schon geöffnet und feuert Gefühle. Wichtig: Wir kritisieren auch bei eventuellen Auseinandersetzungen nie die Persönlichkeit, nur das Verhalten unserer Kinder. Außerdem ist mir das Danach zwischen Elternteil und Kind wichtig: "Heute Morgen bin ich sehr laut geworden. Das hat dich erschreckt, mich auch ein bisschen. Aber wir mussten schnell zum Arzt!" So wird das Kind gehört und gesehen. Ein kleines Feedback-Gespräch – dann menschelt es in den Familien. Und achtet auf euch. Schaut immer wieder, dass es euch Eltern gut geht, denn nur so geht es euren Kindern gut. Sucht euch Inseln, nehmt eure Bedürfnisse an und wahr. Außerdem hilft es, wenn ihr euch immer wieder daran erinnert, dass ihr gut genug seid, auch wenn ihr heute mal einen Scheißtag hattet. Erziehung heißt manchmal auch ein wenig "Ich habe mal nichts vorbereitet". Und bedenkt bitte: Passt gut auf euch auf! Ihr tragt für euch das alleinige Sorgerecht. Es ist erst einmal gut zu wissen, dass unsere Kinder in dieser Situation nichts gegen uns tun, sondern viel für sich. Es nicht persönlich zu nehmen, ist natürlich trotzdem manchmal schwierig. Manchmal sind wir aber auch einfach gestresst von den Widrigkeiten des Tages und werden deshalb selbst wütend. Denn man glaubt es kaum: Eltern sind auch nur Menschen. Wir sind keine bedürfnisorientierten Vollautomaten. Es gelingt eben nicht immer alles. Seid bitte weiterhin keine Bilderbucheltern, seid Wimmelbucheltern.
Warum machen manche Kinder keine Trotzphase durch?
Bei manchen Kindern gibt es noch keinen Wuttsunami, da tauchen ab und an ein paar kleine Wellen auf. Aber da ist jedes Kind individuell verschieden. Es ist nie eine Zeitfrage, wann gewisse Dinge in der Entwicklung passieren. Es ist stets eine Kinderfrage. Es ist ihr eigener innerer Bauplan, der zu gegebener Zeit abgerufen wird.
Was kommt eigentlich nach der Autonomiephase?
Es folgt oft die Wackelzahnpubertät. Den Begriff Wackelzahnzeit mag ich aber etwas lieber, da Pubertät immer mit Hormonen zu tun hat. Diese Zeit beginnt oft schon mit fünf Jahren und hat mit dem anstehendem Schuleintritt zu tun. Die soziale Rolle als Kitakind ist bekannt, aber das Kind weiß nicht, was es in der Schule erwartet. Es wird unsicher, ihm brennen die Sicherungen durch und es vergewissert sich ständig bei den Eltern, ob es weiterhin mit ihnen rechnen kann. Dies führt auch oft zu sehr irrationalen Wutanfällen. Mein Rat: So wenig Bohei um das Thema Schule machen, wie es geht. Den Ernst des Lebens sehe ich hier nur auf meinem Konto, da Schulranzen unfassbar viel Geld kosten. Ansonsten ist es ein weiterer Lebensabschnitt, den mein Kind sehr gerne ohne Druck, sondern stets mit Spaß und Freude am Lernen begegnen sollte. Es mag eine Leistungsgesellschaft geben, aber es gibt keine Leistungskindheit. Die Noten entscheiden nicht über die Zukunft, sondern unsere Kinder entscheiden über ihre Zukunft. Und by the way: Abschlüsse kann man jederzeit im Leben nachholen.
Fazit: Immer der Phase nach!
Ob Autonomie- oder Trotzphase: Wer hier die Ruhe behält, kommt mit seinen Kids leichter durch diese Zeit. Und wer noch etwas Hilfestellung benötigt: Experte Matthias Jung hat auch ein Buch zu dem Thema geschrieben: "Immer darf ich alles nie!: Erste Hilfe für Familien, die die Phase voll haben"- lehrreich, aber auch lustig!