Seit 2016 ist der Ratgeber "Das Kind in dir muss Heimat finden" von Stefanie Stahl ununterbrochen auf den Bestsellerlisten. Darin beschreibt die renommierte Psychologin, wie man negative Glaubenssätze aus seiner Kindheit erkennt und auflöst.
Das ist besonders wichtig, wenn man eigenen Nachwuchs hat, schließlich will man diese negativen Glaubenssätze ja nicht weitergeben. Das Problem dabei: Viele Männer haben mit Psychologie leider wenig am Hut. Im Interview mit Men"s Health Dad erklärt die Autorin, was Vätern dadurch entgeht.
Was bedeutet es, dem inneren Kind Heimat zu geben?
Das innere Kind ist eine Metapher für die frühen Prägungen, die wir in unserer Kindheit erfahren haben. Es spiegelt die Erfahrungen wider, die wir damals mit unseren Eltern und unserer Umwelt gemacht haben. Diese Erlebnisse prägen unser Selbstbild, unsere Beziehungsmuster und unsere Art, die Welt wahrzunehmen. Wenn diese Prägungen negativ waren, können daraus innere Überzeugungen entstehen wie: "Ich bin nicht wichtig", "Ich genüge nicht" oder "Man kann niemandem vertrauen".
Diese Überzeugungen wirken im Hintergrund und beeinflussen unser Verhalten und unsere Emotionen, oft, ohne dass wir es merken. Dem inneren Kind Heimat zu geben, bedeutet, sich dieser alten Prägungen bewusst zu werden, sie anzunehmen und zu reflektieren. Es geht darum, nicht mehr unbewusst von diesen Mustern gesteuert zu werden, sondern als erwachsener Mensch die Kontrolle über die eigenen Gefühle und Handlungen zu übernehmen. Indem wir unser inneres Kind annehmen, nehmen wir unsere Verletzlichkeit an und lernen, uns selbst zu regulieren. Das schafft Freiheit und emotionale Stabilität.
Warum fällt Männern die Auseinandersetzung mit ihrem inneren Kind oft schwerer?
Das hat viel mit traditionellen Rollenbildern zu tun, die Männer seit Generationen geprägt haben. Gefühle wie Trauer, Angst oder Scham wurden lange Zeit als schwach angesehen und Männern regelrecht abtrainiert. Stattdessen waren nur Wut und Freude sozial akzeptierte männliche Emotionen. Das Problem ist, dass viele Männer dadurch keinen guten Zugang zu ihren Gefühlen haben – oder gelernt haben, sie zu verdrängen.
Wenn Männer jedoch den Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen verlieren, verlieren sie auch die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen. Das betrifft nicht nur ihre Beziehung zu Partnerinnen oder Partnern, sondern vor allem auch die zu ihren Kindern. Dabei bedeutet Männlichkeit keineswegs, Gefühle zu unterdrücken. Wahre Stärke zeigt sich darin, sich mit den eigenen Emotionen auseinanderzusetzen, Verletzlichkeit zuzulassen und darüber zu reflektieren, wie man alte Muster durchbrechen kann.

Wie beeinflusst das innere Kind die eigene Elternschaft?
Die Prägungen aus der eigenen Kindheit wirken sich unbewusst auf die Art und Weise aus, wie wir selbst Eltern werden. Wer zum Beispiel einen sehr autoritären Vater hatte, könnte entweder ebenfalls autoritär handeln oder ins andere Extrem fallen und überhaupt keine Grenzen setzen, um es besser zu machen. Beide Extreme können problematisch sein, weil sie unreflektiert sind und nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder eingehen.
Das innere Kind spielt auch deshalb eine so große Rolle, weil alte Verletzungen uns immer wieder im Alltag steuern können – oft in Form von Überreaktionen. Ein Vater, der sich als Kind ständig übergangen fühlte, könnte auf die kleinste Form von Zurückweisung durch seine Kinder übermäßig empfindlich reagieren. Nur wer sich mit diesen Prägungen auseinandersetzt und sie versteht, kann in der Gegenwart klarer und bewusster handeln und seinen Kindern das geben, was sie wirklich brauchen: Liebe, Halt und Orientierung.
Wie wichtig ist Einfühlungsvermögen in der Erziehung?
Einfühlungsvermögen ist das Fundament jeder guten Erziehung. Studien zeigen, dass es die wichtigste Eigenschaft von Eltern ist. Einfühlungsvermögen bedeutet, die Gefühle des Kindes wahrzunehmen und es in schwierigen Momenten emotional zu begleiten. Ein trauriges Kind will zum Beispiel nicht sofort Lösungen hören, sondern zunächst, dass sein Kummer wahrgenommen wird.
Einfühlsame Eltern stärken die emotionale Resilienz ihrer Kinder. Kinder lernen so, dass ihre Gefühle wichtig sind und dass sie sie regulieren können. Ohne Einfühlungsvermögen läuft man Gefahr, Kinder zu verunsichern. Das passiert zum Beispiel, wenn Eltern ihre Traurigkeit ignorieren oder als unwichtig abtun. Wichtig ist: Nur wer selbst mit seinen Gefühlen im Reinen ist, kann diese Fähigkeit auch an seine Kinder weitergeben.
Was können Väter tun, um ihren Kindern eine sichere Bindung zu ermöglichen?
Väter haben eine immense Bedeutung für die Entwicklung ihrer Kinder. Eine sichere Bindung entsteht, wenn ein Kind spürt, dass es bedingungslos geliebt wird – nicht für das, was es leistet, sondern für das, was es ist. Dazu gehört auch, dass Väter präsent sind, sowohl emotional als auch zeitlich. Es reicht nicht, einfach nur da zu sein, sondern Kinder brauchen echte Aufmerksamkeit und Interesse.
Gleichzeitig ist es wichtig, den Kindern Autonomie zuzugestehen. Sie sollten das Gefühl haben, dass sie nicht ständig um Anerkennung kämpfen müssen, sondern dass sie in ihrer Persönlichkeit respektiert werden. Mit dieser Kombination aus Liebe, Zeit und Vertrauen können Väter eine sichere Basis schaffen, von der aus ihre Kinder die Welt erkunden können.
Podcast-Tipp: Unsere Expertin war auch schon mal Gast in unserem Podcast, hier geht es zum Gespräch:
Ist es je zu spät, sich mit dem inneren Kind auseinanderzusetzen?
Es ist nie zu spät. Die Arbeit am inneren Kind kann in jedem Lebensabschnitt beginnen – und oft reicht schon der erste Schritt, um vieles zu verändern. Wenn wir unsere alten Prägungen reflektieren, verstehen wir uns selbst besser und können bewusster handeln. Das kommt nicht nur uns selbst zugute, sondern auch unseren Beziehungen – sei es zu unseren Kindern, unseren Partnerinnen oder Partnern oder unseren Mitmenschen.
Viele Menschen glauben, diese Arbeit sei schmerzhaft oder würde sie destabilisieren. Aber in den meisten Fällen ist das Gegenteil der Fall: Es ist ein spannender, oft befreiender Prozess, der nicht nur Erkenntnisse bringt, sondern auch Spaß machen kann. Und selbst wenn die Kindheit besonders belastend war, kann man sich jederzeit professionelle Hilfe suchen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Ergebnisse lohnen sich allemal.
Fazit: Ändere dich - und du du änderst die Welt!
"Selbstreflexion ist der Schlüssel zu einer besseren Welt", sagt Psychologin Stefanie Stahl. "Wenn Menschen sich ihrer Prägungen bewusst sind, können sie konstruktiver mit Konflikten umgehen – ob in der Familie oder im Beruf. Ein Beispiel: Menschen, die sich selbst nicht reflektieren, handeln oft impulsiv oder defensiv. Das führt zu Missverständnissen in Beziehungen. Reflexion hilft uns, bewusster zu agieren. Ich bin überzeugt, dass viele gesellschaftliche Probleme gelöst werden könnten, wenn mehr Menschen bereit wären, an sich selbst zu arbeiten. Eine reflektierte Welt wäre eine deutlich friedlichere und empathischere Welt." Übrigens gibt es zu dem Bestseller von Stefanie Stahl auch ein Arbeitsbuch ("Im drei Schritten zum starken Ich") - vielleicht ein guter Einstieg.