Mein Sohn ist wütend auf mich. Auf seinem Handy hat sich die Bildschirmsperre eingeschaltet. Nix mehr mit Zocken, sagt die Kindersicherung. Türen knallend verschwindet er in seinem Zimmer, nicht ohne zum Abschied "wieso darf der das und ich nicht?" zu brüllen.
"Der" ist sein zweieinhalb Jahre älterer Bruder, der mit seinen 13 Jahren keine begrenzte Bildschirmzeit mehr hat, breit grinst und seelenruhig weiterzockt. "Dein Bruder hatte in deinem Alter noch gar kein Handy", rufe ich hinterher, reiner Reflex, ich weiß, dass ich mit rationalen Gründen nicht weiterkommen werde. Denn das ist ja nicht das erste Mal, dass sich der Jüngere benachteiligt fühlt und das auch lautstark kundtut.
Von Cola bis Handy: Große Geschwister sind die Vorkämpfer
Der Große darf allein mit seinem Kumpel ins Kino? Unfair! Der Film ist aber erst ab 12? Na und, er will auch. Der Große hat auf einem Kindergeburtstag (oder sagt man Teenie-Geburtstag?) Cola getrunken? Er will auch! Der Große darf im Auto vorne sitzen? Gemein! Er ist doch noch gar nicht groß genug dafür? Egal!
Dass der Große in vielen Dingen aber auch den Weg für ihn "freigekämpft" hat, wovon er, der Jüngere, heute profitiert, übersieht er großzügig. Dabei fing das schon im Babyalter an: Während mein älterer Sohn tatsächlich fast die ersten 2 Jahre lang zuckerfrei lebte, bekam der kleinere schon im zarten Alter von 6 Monaten seinen ersten Löffel Eis zu essen. Sein großer Bruder gab ihm damals großzügig etwas von seinem Pinocchio-Becher ab. Die ersten Kinderfilme gucken? Dürfen die jüngeren Geschwister meistens schon viel früher als es die Großen durften. Einfach, weil sie dabei waren, als der erste Videoabend anstand. Achterbahn im Freizeitpark, das erste Handy, der erste Computer: Die Liste der Beispiele ist lang.
Fairness ist nicht die Lösung
Dabei habe ich mich immer für einen sehr fairen Elternteil gehalten. Immer schön alle Kekse unter allen drei Kindern aufgeteilt, wenn das eine Kind an einem Tag etwas mehr Medienzeit hatte, es den beiden anderen Kindern am anderen Tag auch gestattet. Bloß zusehen, dass sich niemand benachteiligt fühlt. Hat, siehe oben, nicht geklappt. Hätte ich bloß vorher den Elternratgeber "Good inside" von Becky Kennedy gelesen, die eindeutig sagt, dass Fairness Konflikte nicht vermeidet, sondern eher anheizt. Denn, so die US-Amerikanerin, das bringe die Kinder dazu, über die Fairness zu wachen. Je mehr Fairness, umso mehr Wettbewerb.
Ich bin nicht der einzige Elternteil, der mit derart naiven Vorstellungen an die Familienplanung ging, zumindest wenn es nach Autorin Becky Kennedy geht: "Viele Mütter und Väter klammern sich an eine verbreitete, aber recht unrealistische Ansicht: Geschwistern sollten wie beste Freund sein."
Geschwister: Freunde oder Feinde?
Ich hatte es mal für eine gute Idee gehalten, Kinder im möglichst engen Altersabstand zu bekommen. Dann können sie schön miteinander spielen, praktisch! Und dann noch zwei Jungs, das werden die besten Freunde. Es war eine Illusion. Dieser Plan ging für eine kurze Zeit auf, einige Monate, als die Jungs 3 und 5 waren. Ansonsten eher: "Er hat mich angeguckt! Er hat geschummelt!" und Frust vom Kleinen, wenn er nicht so schnell laufen oder nicht so gut Tischtennisspielen kann wie der Große und Spitzen vom Großen, wenn ihm etwas besser gelingt. Zweitgeborene kommen auf die Welt und wachsen damit auf, dass da immer jemand ist, der irgendetwas besser kann. Besser Bauklötze stapeln, besser Schleife binden, besser Sandkuchen backen.
Ganz ehrlich: Mir graut davor, wie das werden soll, wenn sie 15 und 17 sind und Themen wie Ausgehen, Nächte durchtanzen und, noch schlimmer, Alkohol ins Spiel kommen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, frage ich Nicola Schmidt um Rat. Sie hat das Buch mit dem vielversprechenden Titel "Geschwister als Team" geschrieben und gibt erst einmal Entwarnung. Es ist ganz normal, wenn das kleinere Geschwisterkind mit dem größeren miteifern will und das größere Kind wiederum über seine Privilegien wacht. Je kleiner der Altersabstand, umso größer die Rivalität, erklärt mir die Sozialwissenschaftlerin, selbst Mutter von zwei Kindern. Noch einmal größer wird die Rivalität, wenn die Geschwister dasselbe Geschlecht haben. Bingo, ich habe also den Rivalitätsvolltreffer gelandet.
Podcast-Tipp: Das Thema Geschwister haben wir auch schon mal in unserem Podcast besprochen - hier geht's zum Gespräch.
Geschwister müssen ihre Rechte und Pflichten kennen
Aber was hilft denn nun, damit das ständige "aber der darf auch schon" ein Ende hat? Den Kindern klarmachen, dass mit einem bestimmten Alter Rechte, aber auch Pflichten einhergehen, sagt Nicola Schmidt: "Der Große darf mehr, aber dafür muss er auch mehr machen." Dann werde es auch in den Augen des Kleineren gerechter. Es ist also quasi ein Spiel aus Rechten und Pflichten.
So weit, so logisch, aber es hört sich einfacher an, als es ist. Denn auch bei den Pflichten versuche ich, sie möglichst gleich zu verteilen, damit sich keiner benachteiligt fühlt. Alles andere hielt ich bisher für ungerecht. Jetzt ist es also an mir, nach Aufgaben zu suchen, die der Große erledigen muss und der Kleine qua Alter noch nicht kann und somit dann auch logisch versteht, dass er dafür, dass er diese Aufgabe nicht übernehmen muss, eben auch noch nicht "Herr der Ringe" schauen darf. Finde ich wirklich Aufgaben, die nur der Ältere kann? Altpapier zum Container bringen tun sie beide, Pfandflaschen im Supermarkt abgeben auch.
Theorie und Praxis in der Kindererziehung
Dass es schwierig ist umzusetzen, sieht auch Nicola Schmidt: "Uns fehlt in der Gesellschaft eine kulturelle Vorgabe, also allgemeingültige Regeln." Früher seien die Dinge klarer gewesen, das wäre es aber auch vorrangig um Pflichten gegangen, die mit einem bestimmten Alter einhergingen. Typisches Beispiel sind auch Initiationsriten indigener Völker, wo man ab einem bestimmten Alter bestimmte Dinge tun darf, aber eben auch andere Dinge tun muss. Heute sind die meisten Regeln von Familie zu Familie unterschiedlich. Individualität ist etwas Positives, aber in diesem Fall erschwerend.
Würde ich auf einem Bauernhof leben, wäre das wesentlich einfacher, da gibt es Tiere zu füttern, Sitzrasenmäher zum drauf Rumfahren. Wir wohnen aber in der Innenstadt, haben keinen Rasen und noch nicht mal eine Katze, deren Katzenklo man reinigen muss.
Mein großer Sohn und ich haben uns nun darauf geeinigt, dass er sein Zimmer selbst aufräumt, staubsaugt und seine Klamotten im Kleiderschrank verstaut. Das muss der Kleine noch nicht. Ich muss zugeben, das mit dem Kleiderzusammenlegen hat mein Sohn besser drauf als ich. Ich bin wirklich nicht böse drum, diese Pflicht abgegeben zu haben und freue mich, wenn ich sie auch an mein mittleres Kind übertragen kann.
Wie werden Geschwister zum Team?
Die Eifersüchteleien auf Privilegien des Großen werden geringer, seit unterschiedliche Pflichten eingezogen sind – aber das ständige Mithalten-Wollen wird nicht weniger und damit auch das ständige Unter-die-Nase-Reiben, dass man der Größere ist. Was hilft denn nun, damit Geschwister wirklich ein Team werden, frage ich Nicola Schmidt. Den Kindern mit auf den Weg geben, "siege, aber triumphiere nicht", rät sie mir. Man kann besser sein, sollte damit aber nicht vor anderen angeben. Logisch, das kommt nicht nur bei Geschwistern nicht gut an. Dem großen Kind sollten Eltern in Triumphmomenten auch klar darauf hinweisen, dass der Triumph mit dem Altersvorsprung zu tun hat.
Noch einen Rat hat sie: Die Kinder nicht zu vergleichen. Das lässt sich relativ einfach umsetzen, aber leider haben Eltern das ja nun nicht immer unter Kontrolle: Wie also reagieren, wenn Großeltern, Lehrkräfte oder Nachbarn den Geschwisterkindern unter die Nase reiben, dass der große Bruder ja in dem Alter schon total toll schwimmen konnte? "Direkt darauf hinweisen, dass man solche Vergleiche nicht möchte und sie unterlassen werden sollten", rät Nicola Schmidt. Nicht immer einfach, aber ich werde mich anstrengen, in dieser Sache direkter zu kommunizieren.
Fürs Geschwisterteambuilding empfiehlt sie, regelmäßig "Kinder gegen Erwachsene"-Situationen zu schaffen. Ballspiele, Verstecken, Fangen, so etwas. Oder den Kindern gemeinsame Projekte übergeben oder Aufgaben, die man nur im Team lösen kann. Ich habe es mit "wenn ihr zwei den Geschirrspüler schnell einräumt, dann können wir noch einen Film gucken" gelöst". Die Aussicht auf einen Kinoabend hat die Jungs sich in Windeseile organisieren lassen: Der eine brachte das Geschirr vom Essenstisch, der andere räumte die Spülmaschine ein. Ohne Streit, konstruktiv gelöst – und kein Teller ging zu Bruch. Ich habe sie dafür gelobt und damit alles richtig gemacht, so Nicola Schmidt: "Wenn etwas gut im Team funktioniert, kann man das auch ruhig häufiger hervorheben." Den Fokus also auf das Benennen der guten Dinge setzen, statt ständig zu meckern. Was, nebenbei gesagt, auch in anderen Erziehungsfragen für den Familienfrieden förderlich ist.
Fazit: Neid und Eifersucht gehören zum Leben dazu
Letztlich hilft wahrscheinlich nur ein Stück weit Akzeptanz. Unsere Kinder suchen sich ihre Geschwister schließlich nicht aus, weshalb also setzen so viele Eltern voraus, dass sie die dicksten Freunde werden, nur weil sie zufällig miteinander verwandt sind? Das sagt auch die US-Autorin Becky Kennedy: "Die Eltern müssen akzeptieren, dass Kinder ihren Geschwistern eine enorme Bandbreite an Gefühlen entgegenbringen." Was für eine schöne Umschreibung für den Alltagswahnsinn mit Kindern: "enorme Bandbreite an Gefühlen"! Noch einen Tipp hat Becky Kennedy parat: Eltern sollten ihren Kindern die Gefühle nicht ausreden, sondern sie benennen und Verständnis zeigen. Neid und Eifersucht gehören zum Leben dazu. Auch und eben unter Geschwistern.