DIE EXPERTEN
Kalle Sauerland (37) führt als Promoter Sauerland Event, den größten Boxstall Deutschlands. Als Sohn von Promoter-Legende Wilfried erlebte er hautnah mit, welche Hürden eine Kampfsportart nehmen muss, damit sie sich im Mainstream etabliert.
www.sauerlandpromotion.com
Andreas Kraniotakes (32) steigt als Schwergewichtler „Big Daddy“ regelmäßig zu MMA-Fights in den Käfig. Der Diplom-Sozialpädagoge aus Koblenz schreibt zurzeit seine Doktorarbeit, Thema: „Kampfsport und seine Auswirkung auf die Gesellschaft“
www.kraniotakesmma.com
DAS INTERVIEW
Herr Kraniotakes, wie erklären Sie sich die massive Kritik an Ihrer Lieblings-Sportart?
Kraniotakes: Wir werden einfach falsch verstanden. In der Vergangenheit haben sich die Medien auf uns gestürzt, wir waren dankbare Opfer. Schließlich hat die MMA-Szene keine Lobby, um sich dem entgegenzustellen. Außerdem bieten wir Szenen, die sich mit journalistischen Mitteln reißerisch darstellen lassen, und das hat uns einen Stock zwischen die Beine geworfen. Der Ton ändert sich jedoch langsam. Vielen wird’s allmählich langweilig, auf uns rumzuhacken.Bei MMA ist mehr erlaubt als beim Boxen.
Wo ziehen Sie für sich die Grenze, Herr Sauerland?
Sauerland: Beim Bodenkampf. Das macht den Sport langsamer und zugleich unattraktiv für viele Zuschauer – mich eingeschlossen. Das Problem: Beim Boxen verstehen die Zuschauer, dass ein Kämpfer angezählt wird, sobald er zu Boden geht. Bei Mixed Martial Arts nimmt der Kampf in diesem Moment eine gänzlich andere Form an, er wird technisch sehr komplex. Da hat das Boxen mit seinen einfachen Regeln einen Vorteil, vom Punktesystem einmal abgesehen.
Sind es also die speziellen Wettkampfregeln, die MMA so schlecht dastehen lassen?
Kraniotakes: Nein, eher fehlende Vorbildung, gerade beim Thema Bodenkampf. Man muss diesen Sport einfach erst mal verstehen – und vor allem begreifen, dass der auf dem Boden liegende Kämpfer nicht automatisch wehrlos ist. Denn: Genau diese Situationen trainieren wir. Sie werden sich wundern, wie schwer es ist, einem geübten Bodenkämpfer eins auf die Nase zu hauen. Und wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, sich zu verteidigen, gibt es auch bei uns noch den Ringrichter. Genau diese Art von Aufklärung ist unsere aktuelle Aufgabe.
Kann das so funktionieren, Herr Sauerland?
Sauerland: Grundsätzlich gesehen schon. Hier zu Lande hat die MMA-Szene ein ähnliches Problem, wie es früher beim Boxen der Fall war. Obwohl als eine der ersten olympischen Sportarten schon in der Antike etabliert, hat es Jahre gedauert, bis der Boxsport diesen Status in Deutschland erreichte. Mein Vater hatte noch in den 1970er- und -80er-Jahren mit zahlreichen Vorurteilen gegenüber dem Boxsport zu kämpfen.
Lässt sich MMA denn gut verkaufen?
Sauerland: In Deutschland hakt’s da vielleicht, in den USA sieht das anders aus. Ich ernte oft erschrockene Reaktionen, wenn ich erzähle, dass ich als Box-Promoter arbeite. Aber beim Blick auf unsere Einschaltquoten erkennt man schnell, dass viele Leute zuschauen – manche vielleicht auch heimlich. Man merkt also: klare Regeln, Mann gegen Mann – das zieht.
Kraniotakes: Genau! Möglicherweise sind die Deutschen einfach einen Tick skeptischer. Und dazu kommt die berühmte Doppelmoral: Dinge, die etabliert sind, haben es oft leichter, Neues wird gerne verteufelt. Aber genau das gibt mir auch die Hoffnung, dass MMA nachziehen wird, wie etwa Thai-Boxen: Anfang der 1990er-Jahre war das noch ein Milieu-Sport der bösen Jungs, die Mädchen am Laufen hatten, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung. Mittlerweile erfreut es sich großer Beliebtheit, läuft gar in öffentlich-rechtlichen TV-Sendern. Christine Theiss hat dort als Vorzeige-Athletin viel bewegt. Der nächste logische Schritt muss nun MMA sein. Unser Sport ist einfach frisch, und er bietet massig aufregende Momente.
In denen gerne auch Blut fließt. Was entgegnen Sie Kritikern, denen MMA zu brutal ist?
Kraniotakes: Das muss man differenziert sehen. Eine Platzwunde am Schädel blutet vielleicht stark, ist aber nach einer Woche wieder verheilt. Manche Fußballer-Verletzung, etwa ein Kreuzbandriss, ist erst nach 6 Monaten auskuriert. Da sagt jedoch keiner, der Sport sei zu brutal.

Boxen gilt als Gentlemen-Sport, MMA dagegen sehen viele als eine Art Ventil für Schlägertypen. Welches Argument setzen Sie dem entgegen?
Kraniotakes: Unsere Historie. Das altgriechische Pankration, das schon bei den ersten Olym-pischen Spielen praktiziert wurde. Die Frage, die seinerzeit die Leute beschäftigt hat: Wer ist der beste Fighter? Ringen und Boxen gab’s schon, nur noch keine Kombi daraus. Wer die Antwort heute noch sucht, für den ist MMA ein attraktiver Sport, vielleicht attraktiver als das Boxen. Wobei ich mir natürlich jede Woche selbst ein paar Mal Boxhandschuhe anziehe.
Muss man denn ein Experte in jedem einzelnen MMA-Stil sein, um das Gesamte zu begreifen?
Kraniotakes: Keinesfalls. Auch im Ring muss ich kein Weltklasse-Boxer oder -Judoka sein. Allerdings muss ich wissen, wie ich reagiere, wenn mir plötzlich ein Spezialist gegenübersteht. Was sich der Zuschauer merken muss, ist dies: Es gibt vielfältige Möglichkeiten, den Kampf zu gewinnen, und ebendas macht MMA facettenreicher als jede seiner Komponenten.
Könnte MMA dem Boxen also langfristig gesehen vielleicht sogar den Rang ablaufen?
Sauerland: Ich denke nicht. Beide Sportarten ergänzen sich eher. Wir haben da unterschied-liche Zielgruppen. Vor 6 Jahren hat man in den USA noch gesagt, dass MMA kommt und dass Boxen verschwindet. Tatsächlich folgte dann ein Boom, der sich mittlerweile jedoch wieder gelegt hat. Und Boxen ist mit durchschnittlich 4 Millionen Fernsehzuschauern immer noch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses – dort muss MMA erst einmal hinkommen.
Wie hat sich der Boxsport dieses Interesse und diese Akzeptanz im Mainstream erkämpft?
Sauerland: Beide Sportarten, Boxen und MMA, besetzen Nischen. Also ist es am effektivsten, wenn die Promoter, die Verbände und auch die Kämpfer selbst sich in der Öffentlichkeit präsentieren. Der Sauerland-Boxstall unterstützt beispielsweise diverse Charity-Projekte, etwa in einem Londoner Problemviertel, aber auch in Berlin. Außerdem muss man den Leuten die enormen Leistungen der Sportler vor Augen führen. Es gibt kaum Sportarten, in denen man so viel einstecken, so vielAusdauer mitbringen, so viel kombinieren muss. Wenn die Fernsehmoderatoren manche mangelhaften Leistungen der Spieler bei einer Fußball-WM mit der Hitze entschuldigen, kann ich immer nur herzhaft lachen. Vor einiger Zeit hatten wir in einer Schweriner Halle so um die 40 Grad. Da hilft den Kämpfern nur noch Leidenschaft.
Fehlen der MMA-Szene in der Außendarstellung vielleicht einfach die richtigen Typen?
Kraniotakes: Nicht wirklich. Bei uns muss man bloß zweimal hinsehen. Bei mir wundern sich viele Leute schon, dass ich 3 Sätze geradeaus reden kann, sogar eine akademische Bildung habe. Wie kann denn ein so normaler Mensch diesen vermeintlich brutalen Sport ausüben? Dieser Frage sehen sich viele meiner Kollegen gegenüber. Wer ein zweites Mal hinguckt, der versteht den Sport und erkennt ihn auch als solchen an. Dieser Prozess ist langwierig, zum Teil auch ermüdend. Im nächsten Jahr bin ich 10 Jahre als MMA-Kämpfer aktiv. Und so lange muss ich mich permanent dafür rechtfertigen, was ich tue, und erklären, dass ich kein wilder Schläger bin. Allerdings freue ich mich auch über die aktuellen Entwicklungen und merke schon, dass es ganz allmählich bergauf geht.
Kritiker fordern eine Altersgrenze – für Aktive und Fernsehzuschauer. Wäre das richtig so?
Sauerland: Das ist schwer zu sagen. Ich habe selbst zwei Söhne. Der jüngere ist 6 Jahre alt. Dem würde ich im Fernsehen weder MMA noch Boxen zeigen. Als Vater würde ich es ab 10 oder 12 Jahren erlauben. Wobei: Das ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Wenn ich zum Beispiel die Computerspiele sehe, die Kinder heute in die Finger bekommen, dagegen ist selbst MMA vergleichsweise harmlos. Ganz im Gegenteil: Kampfsport kann das Selbstbewusstsein der Kinder schulen und ihnen helfen, die eigenen Grenzen kennenzulernen. Mein älterer Sohn ging schon mit 12 Jahren zum Boxunterricht.
Würden Sie den denn auch zum MMA schicken?
Sauerland: Letztlich kann doch alles, was die Jugend zum Sport bringt, ob MMA oder Boxen, sie von Kriminalität und negativen Einflüssen fernhalten. Das habe ich hautnah bei unseren Projekten in London und Berlin erleben können. Dort gibt es Kinder, die mit einem Bein schon lebenslang im Knast stehen und sich durch den Boxsport komplett wandeln. Diese Kids werden dann zwar nicht unbedingt Weltmeister oder machen die große Karriere, aber sie bekommen eine unglaubliche Disziplin.
Hat auch MMA dieses Potenzial?
Kraniotakes: Klar. Ob wir nun über MMA oder über traditionellen Kampfsport wie Judo und Karate sprechen: Kampfsport ist generell etwas Besonderes. Für viele Eltern ist es sicherer und weniger brutal, wenn ihre Kinder sprinten und nebeneinander herlaufen. Andererseits bieten wir eine einzigartige körperliche Erfahrung: die Konfrontation im Zweikampf. Das ist gerade für Jungs oder junge Männer äußerst wichtig. Diese Erfahrung mache ich als Trainer regelmäßig, und als Pädagoge habe ich einen Blick dafür, wenn neue Jugendliche in mein Gym kommen. Sobald sie am Boden zum ersten Mal unten gelegen haben, verhalten sie sich komplett anders – erst dann verstehen sie, wie es sich anfühlt, wenn man der Unterlegene ist. In Kombination mit der von Herrn Sauerland angesprochenen Disziplin ist das Potenzial von MMA für Jugendliche einfach enorm hoch.
Sollten diese Jungs Ihrer Meinung nach auch bei den Kämpfen im Fernsehen zuschauen?
Kraniotakes: Ich glaube nicht, dass es viele Jugendliche gibt, die sich im Fernsehen MMA-Fights anschauen und sich anschließend auf der Straße mit anderen prügeln – vor allem nicht, wenn man bedenkt, was im Fernsehen sonst noch so alles läuft. Das beste Beispiel dafür ist Show-Wrestling. Ich habe mir dieses Spektakel als Kind selbst häufig angesehen, ohne zu wissen, dass diese Performances einstudiert sind. Wenn sich Wrestler gegenseitig Stühle auf den Kopf hauen, ist das Gewaltverherrlichung und kein besserer Einfluss als ein Sport, der klare Regeln hat – wie eben MMA.
Könnten Sie sich vorstellen, irgendwann mal MMA-Fights zu promoten, Herr Sauerland?
Dazu habe ich im Moment einfach zu viel auf dem Zettel. Wir starten gerade in England und Skandinavien voll durch, und in Deutschland veranstalten wir zudem 10 Events pro Jahr.
Und wenn Sie vom zeitlichen Aspekt absehen?
Sauerland: Nein, denn dazu fehlt mir die enge Bindung zur Sportart. Ich war schließlich erst einmal live bei einem UFC-Kampf. Das war in London – ein sensationelles Spektakel! Trotzdem müsste ich mich mit der Sportart erst mal anfreunden. Mit Boxen verbinde ich unwahrscheinlich viel – da bin ich leidenschaftlich. Meine Babysitter waren Boxer. Als ich 10 war, habe ich erstmals im Gym gearbeitet, dort die Spuckeimer ausgeleert. Mit der Zeit habe ich mich in diese ganz spezielle Welt verliebt.
MMA ist auch speziell. Muss ein Neuling da schon eine gewisse Grundaggression mitbringen?
Kraniotakes: Nein, nicht mal im Training. Das hat eher mit Technik zu tun. Wenn Neulinge zum ersten Mal auf der Matte stehen, sind sie oft überrascht, dass da nicht sofort die Fäuste fliegen. Stattdessen lernen sie zunächst mal Grundtechniken: Verteidigungsbewegungen beispielsweise und Methoden, wie sie sich aus der Unterlage befreien können. Das ist das Handwerkszeug. Aggression kommt ins Spiel, um die eigene Leistung zu optimieren, um die letzten Prozentpunkte herauszuholen. Aber dieser Sport hat eher den gegenteiligen Effekt. Ich habe heute zum Beispiel schon 2-mal trainiert und war zu keinem Zeitpunkt aggressiv.
Noch ein letztes Wort an alle MMA-Kritiker?
Kraniotakes: Wir zwingen niemanden, MMA zu mögen. Auch für mich gibt es Sportarten, denen ich überhaupt nichts abgewinnen kann, Curling zum Beispiel. Ein großer Fußballfan bin ich ebenfalls nicht. Trotzdem verstehe ich, wenn der Sport für bestimmte Menschen zur Leidenschaft wird. Also bitte ich darum, dass diese so genannten Kritiker uns einfach die MMA-Events durchführen und feiern lassen. Ich möchte Sie, Herr Sauerland, übrigens ganz herzlich zu so einer Veranstaltung einladen.
Was sagen Sie dazu, Herr Sauerland?
Danke, Herr Kraniotakes ich komme gern! Den Standpunkt kann ich voll und ganz verstehen. Ich glaube schon, dass sich MMA in Deutschland langfristig etablieren kann. Dazu muss es allerdings Helden geben – wie im Boxen die Klitschko-Brüder, Arthur Abraham, Marco Huck, Jürgen Brähmer oder früher Sven Ottke. Nur dann blüht MMA eine große Zukunft.