Es sind bedrohliche Nachrichten. "Weißt du, die einzige Zeit, die ich wirklich noch für mich habe, sind die paar Minuten täglich, wenn ich auf m Topf hocke", sagt Andreas und steht dabei rauchend am Motorrad. Ich kenne seine Toilette: ein karger, weiß gestrichener, hoher Raum. Einen geschätzten Quadratmeter groß. Das Fenster schließt nicht richtig, im Winter ist es eiskalt. Nein, da möchte man Zeit nicht freiwillig verbringen. "Doch was soll ich machen?", seufzt er. "Sechs Arbeitstage pro Woche, 14 Stunden täglich. Wenn ich heimkomme, gibts noch allerhand zu klären, und am Wochenende muss ich für Frau und Kind da sein." Zum Fahren bleibt ihm kaum noch Zeit, sagt der 39-Jährige, der sich selbstständig gemacht hat. Im letzten Jahr sei er exakt 12 Kilometer Motorrad gefahren. Zum TÜV und zurück. "Klasse", entgegne ich, "dann hast du ja noch welchen. Theoretisch könnten wir gleich starten." Schlechter Witz.
Ein Satz neuer Reifen, wasserdichte Motorradhandschuhe und Zeit
3 Wochen später, Mitte Mai. Telefonanruf. Andreas ist aufgeregt, ringt um Worte: "Du glaubst nicht, was meine Frau mir zum Vierzigsten schenkt" Wahnsinn: Ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, hat seine Holde sämtliche Arbeitstermine verschoben und ein Geburtstagspaket geschnürt, das seinesgleichen sucht: ein Satz neuer Reifen, wasserdichte Motorradhandschuhe und, viel wichtiger, Zeit. Sie will ihm 5 Tage den Rücken freihalten, damit er mit seinem besten Kumpel endlich wieder Motorrad fahren kann. Dieser beste Kumpel bin ich.
Glück gehabt. Ljubljana.
Wochen später stehen wir im Innenhof. Die Motorräder bepackt und frisch bereift. Blick zum Himmel, eine Melange aus Grautönen. Regnen soll es, sagt der Wetterbericht. Und zwar überall in Europa. Wir haben ein nie gekanntes Luxusproblem: 5 Tage Zeit und kein Ziel. Ruck, zuck ist die große Alpenkarte an die Holztür der Garage getackert. "Erster Wurf gilt!", sage ich, hebe den Pfeil und denke: Hoffentlich bleibt er nicht in Augsburg stecken. Glück gehabt. "Ljubljana", sagt Andreas trocken. Gerade so, als wäre es um die Ecke. Doch es sind 650 Kilometer, kürzeste Strecke. Und vielleicht tausend, wenn wir über die Pässe gurken. Letzte Zigarette, rauf auf die A 8 Richtung München.
Was willst du erzählen, wenn du nichts erlebst?
Bereits auf den ersten Kilometern peitscht uns Regen entgegen. Wir überholen eine E-Klasse mit Anhänger. Die Blechkiste zieht eine vollausgestattete FJR und eine 1200er-GS im vollen Ornat südwärts. Schöne neue Welt. "Vorn den Arsch von der Sitzheizung beschmeicheln lassen und am Ziel einen auf Tourenfahrer machen, denke ich. Neid? Keineswegs. Reisen ohne das gemeinsame Durchleben unliebsamer Situationen ist wie Suppe ohne Salz. Denn: Wovon willst du zehren, was willst du erzählen, wenn du nichts erlebst? "In 200 Jahren werden sich die Fahrer mit ihrem Moped vielleicht sogar an Treffpunkte beamen", meint Andreas während einer Pause. Mittlerweile regnet es Bindfäden. Der Himmel Richtung München ist pechschwarz. "Hast verdammt viele graue Haare im Bart bekommen", meint er. Ich blicke in den Spiegel. Eine Art Mongole schaut mir entgegen. "Das ist Eis", sage ich. Irgendwie kommt das Thermometer heute nicht über 14 Grad, gefühlt sind es null. Aufsatteln, weiter. Nieselregen bei Augsburg, Starkregen bei München, Wasserfall nahe Traunstein. Wir kehren ein. Voll besetzte Tische, jeder eine Halbe vor sich. Die Uhr zeigt 13.30. Unter uns entsteht ein See, Wasser läuft aus den Klamotten. Wir ordern Schweinebraten und orientieren uns trinktechnisch an den Sitten der Einheimischen vor Ort. 3 Stunden später ist eigentlich alles geklärt. Jeder von uns hat 5 Halbe intus, der Wirt 2 freie Zimmer im ersten Stock und draußen geht die Welt weiter unter.
Das Elementarste im Leben kannst du nicht kaufen
"Feste muss man feiern, wie sie fallen", sagt die Bedienung, eine dralle 30-jährige Blondine, die an unserem ungeplanten Stopp nicht ganz unschuldig ist. "Wo wolltet ihr denn eigentlich hin?" Wir zeigen auf das kleine Pfeilloch in der Alpenkarte: "Slowenien." Am Nebentisch dreht sich ein braun gebrannter, pomadierter Mittvierziger um und meint: "Slowenien? Was macht man in Slowenien? Ich fahre dreimal jährlich nach Amerika Los Angeles, Las Vegas, Sonnengarantie. Aber Slowenien? Überlegt's euch noch mal, Jungs. Es soll junge Hunde regnen." Wir haken nach. Der Sonnyboy hat ein Vermögen geerbt und lebt auf der Überholspur: 3 Harleys, 4 Autos, keine Kinder, keine Frau – Zeit im Überfluss. Es fällt ihm sichtlich schwer zu verstehen, dass wir die gemeinsame Zeit trotz schlechter Witterung genießen. Die Lösung ist einfach: Das Elementarste im Leben, das, was wirklich was bedeutet, kannst du nicht kaufen: Gesundheit, Freundschaft / Liebe und Zeit.
Schongang? Nein. Schräglage!
Nächster Morgen. Wolkentürme, doch trockene Straßen. Um 8.30 Uhr reißt der Anlasser an und schiebt das Öl in die Umlaufbahnen des Suzuki-V2 und Triumph-Triples. Während sie warmlaufen, flitzen unsere Finger über die Landkarte. "Hier, das sieht gut aus", sagt Andreas und zeigt auf den Vršič-Pass. "Davor nehmen wir noch den Wurzenpass mit." Wie immer planen wir nicht, sondern lassen uns von Bauch, Tipps und Wetter leiten. Das kann ins Auge gehen. Meistens wird es jedoch abenteuerlich. Knapp 120 Kilometer Autobahn sind's bis zur Abfahrt Radstadt, und statt Tauern nehmen wir diesmal eine kleine Straße durch den Poschwald und biegen auf die Nockalmstraße. Der Himmel grau, die Wege löchrig und schmal, hinter jeder Kurve eine Überraschung. Schongang? Nein. Schräglage! In Momenten wie diesen, auf verwegen gewundenen Routen, lebt die Art Freiheit auf, die uns aus der Jugend in Erinnerung blieb. Es ist ein jungfräuliches Gefühl völliger Schwerelosigkeit. Ohne die Verzahnung mit Verbindlichkeiten und die Fessel eines durchgeplanten Alltags. Ein Gefühl, das Freundschaften stark verschweißt. Unerklärbar, tief, erschöpfend. So liegen wir nahe Villach im Gras und schweigen. Motoren tickern, Mücken sägen an der Luft, Wolkenbänke als Bühnenvorhang des Julischen Alpenpanoramas. Gespräche überflüssig.
Ein Tritt ins Kreuz
Volltanken in Kranjska Gora, kurzer Blick auf die Karte. "Der Vršič-Pass ist nur 1611 Meter hoch", meint Andreas. "Egal", denke ich. Mich interessiert eigentlich eher, wie das ausgesprochen wird. Klingt irgendwie so, als wenn ein Russe Pfirsich sagt, oder? Über 50 Kehren schraubt sich die Straße baumüberschattet und teils kopfsteinbepflastert in die Höhe. Es sind ausnahmslos Erster- und Zweiter-Gang-Kurven, in denen die Motoren ihre Elastizität unter Beweis stellen müssen. Hier, auf dem Vier-Minus-Belag des slowenischen Bergsattels, rächen sich die Investitionen, die wir beide mit dem Einbau härterer, sportlicher Federelemente getätigt haben. Jede Winternarbe verpasst uns einen Tritt ins Kreuz.
Garlic keeps mossies and women away
Dafür ist der Ausblick fantastisch: bepuderzuckerte Gipfel, schroffe Felsklippen, wildromantischer Wald. Und der Belag der Südrampe ist wesentlich freundlicher zum Fahrwerk. Gas auf! Wir folgen dem Flusslauf der Soča, bis er nahe Tolmin zu einer aufgestauten Seenplatte mutiert. Es ist eine Vier-bis-Sechs-Gang-Strecke, die zwar gut ausgebaut, allerdings auch uneinsichtig ist. Hunger treibt uns in eine Bar. Eine Wirtin, die so dick ist, dass in ihrer Umlaufbahn 2 dünne Bedienungen kreisen, tischt uns hausgemachte Suppe auf. Schon mal Knoblauch ausgepresst und den Saft getrunken? So schmeckt das Zeug. Ein alte Regel aus Afrika fällt mir ein: "Garlic keeps mossies and women away", was so viel bedeutet, dass Knoblauch dir Moskitos und Frauen vom Hals hält. Na gut, wer weiß schon, was heute noch auf uns zukommt …
Wo fettleibige Verandas und Täteräs langschleichen ...
Zuerst einmal Nebel. Wir stochern ostwärts und erwischen bei Petrovo Brdo versehentlich die Bundesstraße 910 Richtung Norden. Zwei bayerische Enduristen auf Honda Varadero und einer alten Yamaha Super Ténéré kommen uns entgegen. Kurzer Klönschnack. In der Annahme, wir könnten diese angebliche Traumstrecke aufgrund unserer Straßenmotorräder nie bewältigen, beschwärmen sie eine Schotterpiste, die sich gleich hier ums Eck über die Höhenzüge windet. Andreas schaut mich an. Wir müssen nichts bereden. Es ist klar. Sein Blick sagt: "Wo fettleibige Verandas und Täteräs langschleichen, kommen wir mit unseren leichten Bikes auch durch." Richtig. Grandiose Aussicht, schlüpfrige Serpentinen, vollgastaugliche Schottergeraden - diese Strecke ist der Wahnsinn. Sie mündet in die Wälder, und ehe wir uns versehen, stehen wir im Niemandsland, wo slowenische Wegweiser verwirren und alle Abzweigungen sich gleichen.
Egal. Trinken wir einen drauf
Aus den vorsichtig geschätzten 10 Schotterkilometern werden 73, denn irgendwie zickzacken wir im Kreis. Endlich wieder Asphalt unter den Pellen, trifft uns die Realität wie ein Schwerthieb: Nach der ländlichen Idylle, den einsamen Schotterpisten, malerischen Dörfern aus bunten, kleinen Häuschen inmitten manikürter Kleingärten und einer fast nostalgisch anmutenden Einsamkeit erschlagen uns Škofja Lokas betonsilohafte Wohnwaben. Wir checken in einer Herberge nahe der mittelalterlichen Innenstadt ein. Der Wirt will sich über unseren unfreiwilligen Offroad-Trip totlachen und meint: "Hähähä, da seid ihr nicht die Ersten, die sich in unseren Wäldern verirrt haben." Egal. Trinken wir einen drauf. Andreas wird heute 40. Sonnenschein. Königswetter. Die Feier vom Vorabend steckt uns in den Knochen, daher lassen wir es langsam angehen, cruisen nordwärts über den Seeberg- und Paulitschsattel. Ein Traum. Kein Verkehr, Gourmet-Asphalt, einsehbare, breite Kehren, postkartiges Alpenpanorama. Auf dem Gipfel ein Hinweisschild: Kurven 0,7 km. Hat sich eigentlich darüber mal jemand Gedanken gemacht? So ein Schild oben auf den Gipfel zu pflanzen? Was kommt nach den 700 Metern, wenn keine Kurven mehr? Freier Fall? Eine mordsabschüssige Gerade? Sprungschanze?
Hier steht die Zeit still, hier wird sie konserviert
Wieder treffen wir ein paar Endurofahrer, die von einer Schotterstrecke schwärmen, die unten im Tal startet. Wir blicken uns an. Alles klar! Dieser Abstecher hat es tatsächlich in sich. Führt steil bergauf und bergab, ist grobkieselig, extrem anspruchsvoll und eine Herausforderung für jeden Straßenreifen oder jedes ABS. Beschleunigungs- und Bremswellen stauchen die Federelemente zusammen, hinter jeder Kehre könnte ein Holztransport schleichen. Diese Vermutung fährt mit. Wo ist der Scheitelpunkt zwischen Spaß und Speed, Wagemut und Vernunft? Ein einsames Anwesen taucht aus der Einsamkeit empor. Es entpuppt sich als Rasthaus. Wir ordern 2 Türkische Kaffee, dicker Satz, 70 Eurocent pro Stück, und lassen die Blicke schweifen: Verwitterte Holzzäune, sperrige Bohnenstangen und schiefe Kartoffelreihen unter prächtigen Kirschblüten. "Hier sollten wir bleiben", meint Andreas. "Hier steht die Zeit still, hier wird sie konserviert." Er schaut auf seine Uhr. Halbzeit.
Ljubljana hat seine Zukunft noch vor sich
Eine Stunde später verdreht uns die Strecke zwischen Prebold und Trbovlje den Kopf. 20 Kilometer pure Schräglage mit gefühlten 360-Grad-Kehren – so, als würde man riesige Ballons umkreiseln. Unser Reiseziel Ljubljana empfängt uns gegen Abend mit einem kurzen Sommergewitter. Die Aufbruchstimmung in der Stadt ist faszinierend und mitreißend, erfrischend fröhlich. Ljubljana hat seine Zukunft noch vor sich. Und nicht wie Stuttgart gefühlsmäßig hinter sich. Da durchfließt der Neckar die Schwabenmetropole und niemand macht was draus. An den Ufern kaum Gastronomie, keine Fantasie, keine Ideen.
Das Leben hat nur diese Nacht
Vor allem, wenn man es mit der slowenischen Hauptstadt vergleicht: belebte Bars und Restaurants entlang des Ljubljanica, der die Stadt durchschneidet. Unbeschwerte Mienen überall. Kein Zittern vor Rezession, Börsencrash, Zukunftsängsten oder Wertverlust. Das Leben hat nur diese Nacht. Und man lebt es. Hier und jetzt. Vierter Tag. Unser Kurvenriecher scheint verschnupft, denn die Strecke zwischen Logatec und Žiri, die auf der Karte gar nicht mal schlecht aussah, ist zwar kurvig, doch löchrig wie ein Schweizer Käse. Zudem liegt viel Rollsplitt vom Seitenrand auf der Straße, ständig muss man Schräglagen korrigieren, um den kleinen Sturzbeschleunigern auszuweichen. Zur Ideallinie wird die, wo kein Geröll liegt. Mit Dynamik hat das nicht mehr viel zu tun. Zudem beginnt es zu regnen. Wir stoppen, stülpen uns vorsichtshalber Plastiktüten über die Stiefel. "Wärst du jetzt lieber daheim?", frage ich. "Und dann?", fragt Andreas zurück. "Ich will nicht nur leben, sondern auch erleben. Lass uns die Gänge durchsteppen." Mittagstisch in Tolmin. Draußen hebt das Sommergewitter erbittert seine Faust. "Ich bin so glücklich über diese geschenkte Zeit", sagt Andreas. "Darüber, einen Bruchteil meines Lebens exakt so verbringen zu dürfen, wie ich es will. Auf dem Motorrad, mit einem besten Freund. Nur diese beiden Dinge zählen jetzt. Ob's regnet, ist mir völlig egal."
Wann sind wir eigentlich das letzte Mal über den Großglockner gefahren?
Wir schlemmen. Deftiges Steak, üppiger Salat, kräftige Suppe. Auf dem Parkplatz vor dem Restaurant stoppt ein Van, der einen Anhänger mit6 teils bekofferten Motorrädern zieht. Die 6 Fahrer springen heraus, kommen rein, schauen auf unsere nassen Klamotten und kondomierten Stiefel. "Na, macht's Spaß?", fragt einer. "Petri Heil" oder "Schmeckt's?" wäre wohl angebrachter. Uns bleiben noch anderthalb Tage. 650 Kilometer wären es die kürzeste Strecke bis ins warme Bett zu Frau und Kind. Unsere Finger kreisen über die Alpenkarte. "Wann sind wir eigentlich das letzte Mal über den Großglockner gefahren?", fragt Andreas und lächelt verschmitzt. Draußen trommelt der Donner. Aus den Boxen trommelt Whitesnake: "Here I go again." Geschenke gibt man nicht zurück.
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