Daniel Brühl sieht heute nicht gut aus. Ein Gerstenkorn schmeißt seine Pläne um: die Dreharbeiten zur zweiten Staffel der US-amerikanischen Erfolgsserie "The Alienist" fortzusetzen. Auch pünktlich zum Interview zu erscheinen hat deshalb nicht geklappt. Dennoch bester Laune setzen wir uns in den Außenbereich eines Cafés vor seiner temporären Wohnung in Ungarns Hauptstadt. In der Gegend um den Károlyi-Kert-Park ist er gerne, eine schöne Umgebung für seinen zweijährigen Sohn. Hier seien nicht so viele Stag-Nights mit betrunkenen Engländern. Unser Gespräch entwickelt sich zu einer vergnüglichen Plauderei. Denn lustig ist es mit dem 41-Jährigen Wahlberliner. Es könnte auch Bier serviert werden und nebenbei Fußball laufen. So wie in seiner Tapasbar in Berlin-Kreuzberg, dort gibt es spanisches Pay-TV. Damit er dem FC Barcelona, dem Verein seiner Geburtsstadt, beim Kicken zusehen kann. Daniel César Martin Brühl González ist bodenständig, obwohl er ein Überflieger ist. Einer der wenigen international erfolgreichen deutschen Schauspieler. Ohne entsprechende Ausbildung, aber mit großem Sprachtalent.

Fotograf: Ralph Mecke / Interview: Scarlett Schultze / Produktion: Yilmaz Aktepe
Daniel, beim Shooting bist du zum Kölsche Jung avanciert. Wie lange kannst du ernst bleiben?
Ich bin schon recht albern, würde ich sagen. Vor allem in diesem irren 80er-Jahre-Hotel Gellért mit Kalter-Krieg-Charme – und ich dann in dem entsprechend absurden Outfit! (der weiße Anzug, Anm. der Red.) Die Geschäftsleute dort dachten sich wahrscheinlich: "Wow, das ist aber ’ne Ansage."

Durch deine Rolle in der Netflix-Serie "The Alienist", die Ende des 19. Jahrhunderts in New York spielt, hast du den direkten Vergleich: Wohin hat sich die Mode in den letzten 120 Jahren entwickelt?
Auf jeden Fall zum Praktischeren. Ich bin erstaunt über den Zeitaufwand, der damals nötig war, um sich anzukleiden. Ich brauche immer eine halbe Stunde, bis ich im Kostüm bin. Es macht zwar ’ne gute Haltung, weil man sich nicht krümmen kann, aber es ist doch recht unangenehm. Ich will mich aber nicht beschweren: Die Damen damals in ihren Korsetts – völliger Wahnsinn und sehr ungesund.
Du drehst in diesen mehrlagigen Kostümen im heißen Sommer von Budapest. Wie hält man das aus?
Die Hitze beim Dreh ist wirklich unglaublich. Bei mir geht es, aber bei einigen Kollegen läuft die Suppe einfach so runter. Mini-Ventilatoren und Aircondition müssen während des Takes aus sein. Jetzt wurden dünne Cooling-Westen besorgt, die man unter dem Hemd tragen kann. Mal sehen, ob das etwas bringt.
Sechs Monate am Stück bist du nicht zu Hause. Wie schafft man das?
Meine Frau ist gerade mit meinem Sohn hier, und auch meine Mutter ist zu Besuch. Wir pendeln, das ist völlig in Ordnung, da Berlin nur eine Stunde entfernt ist. Aber wenn man während der Dreharbeiten nicht ein einziges Mal nach Hause kommt, wie meine amerikanische Kollegin Dakota Fanning, muss es schon krass sein.
Ihre Figur, der Kinderpsychologe Dr. Kreizler, befasst sich mit menschlichen Abgründen. Er will verstehen, warum jemand zum Mörder wird. Wie viel davon steckt mittlerweile in dir?
Ich hoffe, nicht zu viel. Aber Kreizler ist eine komplexe Figur, mit der ich gern Zeit verbringe.

Du drehst auf Englisch. Wie ist das als Nicht-Native?
Ich bin ja wirklich der Laberheini in dieser Serie – das ist ganz schön anstrengend. Man muss permanent funktionieren. Besonders die altmodische Ausdrucksweise erlaubt es dir nicht zu improvisieren, und du musst phonetisch auf viele Kleinigkeiten achten. Gleichzeitig darf man sich nicht zu sehr um diese Details kümmern, sonst gehen Spielfreude und Natürlichkeit verloren.
Hast du einen Sprach-Coach?
Ja, den braucht man dringend. Das ist eine wichtige Allianz. Zum Glück verstehe ich mich gut mit meiner Sprachtrainerin. Es kann echt nerven, wenn man denkt, dass man gut im Fluss war, und dann kommt sie damit, dass ein R nicht so amerikanisch klang. Da werde ich auch mal zickig. (lacht) Die Leute am Set vergessen manchmal, dass Englisch nicht meine erste Sprache ist. Dann sage ich: "Hey, I’m the German guy!" Mit Deutsch kann ich übrigens immer alle belustigen.
Inwiefern?
Sie finden es brüllend komisch, wenn ich in den harten deutschen Akzent verfalle und eine bestimmte Klischee-Attitüde an den Tag lege: gründlich, pedantisch, ein bisschen klugscheißerisch. Es ist witzig, denn gerade als Deutscher bekommt man oft zu hören, man gehöre zum unkomischsten Volk überhaupt. Ich belehre sie gerne eines Besseren. Wenn das langweilig geworden ist, wechsle ich zum Spanier, der so schnell spricht wie ein Maschinengewehr.
Kommt man da nicht durcheinander?
Ich tappe immer noch in die Falle, dass ich zu wörtlich übersetze. Als ich heute mit diesem Gerstenkorn aufgewacht bin, schrieb ich dem Regieassistenten, ich hätte eine "Barley-Grain-Infection". Der wusste überhaupt nicht, welchen Körperteil das betreffen könnte, und antwortete: "Uh, that sounds bad. But what is it?" Es heißt natürlich nicht so, sondern "Sty". (lacht)

In den USA ist die Serie ein sehr großer Erfolg. Hast du damit gerechnet?
Natürlich hatte ich gehofft, dass sie nicht gegen die Wand fährt (lacht) – aber "The Alienist" hatte dann von Folge zu Folge mehr Zuschauer. Was wirklich selten ist und für die Qualität der Serie spricht. Die Krönung waren dann zwei Golden-Globe-Nominierungen.
Was schaust du persönlich gerne?
Schon als Jugendlicher war ich auf England und Frankreich fixiert. Ich gehe total auf, wenn ich in London bin. Dieser schöne Humor und diese wunderbare Ironie – vom Taxifahrer bis zum Lord. Und manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein französischer Schauspieler. Franzosen erzielen in der Masse einfach bessere Resultate. Und vor allem schaffen sie es auch bei kommerziellen Filmen, nicht daneben zu greifen. Kommerzielle französische Komödien sind einfach witziger. Sie sind stilsicher. Es wird nicht so schnell peinlich. Nicht so derb. Wie zum Beispiel die Arbeit von Guillaume Canet, den ich zutiefst bewundere als Schauspieler und Regisseur.
Wie schafft man es als Schauspieler in die USA?
Das haben schon viele vor Ihnen versucht. Es war nie mein primäres Ziel. Aber die Filmwelten sind näher zusammengerückt, das bietet interessante Möglichkeiten. Die erste großartige Erfahrung hatte ich ja mit Quentin Tarantino. All die Rollen, nach denen sich amerikanische Stars die Finger geleckt hätten, wollte er mit deutschen Schauspielern besetzen, fantastisch und so richtig! Naja, und du solltest nicht ganz blöd sein und n’ bissel was können. (lacht)
Gab es bei dir auch schon mal eine Frust-Phase?
Eine kleine schon. Da habe ich auf Angebote verzichtet, die Erfolg versprechend waren, Geld gebracht hätten und viele Zuschauerzahlen hatten. Aber wenn ich von einem Stoff nicht überzeugt bin, lasse ich lieber die Finger davon, das hat sich auf lange Sicht bewährt. Da lohnt dann auch mal eine kleine Durststrecke.

Wie kamst du da wieder raus?
Ich bin in einer Familie mit verschiedenen Kulturen und Sprachen aufgewachsen. Deutscher Vater, spanische Mutter, französische Tanten. Es war für mich ganz natürlich, auch im Beruf so zu denken. Mich inspiriert es, in anderen Sprachen und mit ausländischen Kollegen zu drehen. Ich fing an, in Spanien und England zu arbeiten. Und dann musst du "delivern", wie die Engländer so schön sagen. Man darf keine Eintagsfliege sein.
Wie findest du es, dich selbst zu synchronisieren?
Es ist anstrengend – aber es ist mir sehr wichtig, es selbst zu machen. Bei uns wird ja alles – und vor allem sehr gut – synchronisiert, da muss man wirklich sorgfältig sein. In anderen Ländern ist das teilweise echt der Wahnsinn.
Apropos Wahnsinn. Du bist dieses Jahr 41 geworden …
Ja, jetzt geht es rapide bergab. (lacht)
Wieso das?
Ich brauche inzwischen eine Lesebrille. In meiner Eitelkeit dachte ich, es geht ohne. Bis ich bei einer Drehbuchlesung mit wichtigen amerikanischen Studio-Bossen plötzlich nichts mehr lesen konnte.
Und wie war der 40. Geburtstag für dich?
Ich habe alles dafür getan, dass ich wunderbar in dieses neue Jahrzehnt hineinrutsche. Ich dachte, man muss der Midlife-Crisis mit breiter Brust entgegentreten, damit man keine aufkeimende Depression verspürt.

Was macht die Depression jetzt?
Noch nicht in Sicht. Und ich finde diese Zeit gerade echt ganz cool. Mit Anfang, Mitte 30 fand ich mich auch schon okay, aber ich glaube, ich konnte da ganz schön anstrengend sein. (lacht)
Inwiefern?
Ach, wie das bei Schauspielern so ist mit dem Narzissmus und einer bestimmten Penetranz. Ehrgeizig bin ich immer noch, aber ich hatte so eine Verbissenheit, als ich jünger war. Meine Frau würde jetzt wahrscheinlich sagen: "Du bist immer noch verbissen und eine Nervensäge." (lacht) Sie ist ja Psychologin und durchschaut viele meiner Marotten. Aber ich glaube, es ist ein bisschen besser geworden.
Wie würde dich deine Frau denn beschreiben?
Oh Gott – Sie können ja mal klingeln und nachfragen. (lacht) Sie hat wirklich Geduld mit mir, denn bestimmte charakterliche Züge sind mir schwer auszutreiben.
Zum Beispiel?
Ich bin ein sehr, sehr ungeduldiger Mensch. Wenn ich sage, dass ich gelassener bin, bedeutet das von absolut ungelassen zu ein bisschen mehr gelassen. Ich hatte immer eine große Nervosität in allem, das war ganz schlimm. Ich denke aber, dass ich mich zum Besseren verändert habe.
Und wobei wirst du dich nie ändern?
Ich bin sehr hysterisch und pedantisch mit meinen Socken. Ich mag es zum Beispiel gar nicht, wenn meine Frau meine Socken trägt. Ich bin auch echt traurig, wenn ich ein Loch bei einer Lieblingssocke entdecke. Dann denke ich: "Ach schade, ich habe dich doch immer so gern getragen."

Wird das Loch dann gestopft, oder kannst du dich trennen?
Ich kann mich nur sehr schwer von meinen Kleidungsstücken trennen. Auch wenn ich genau weiß, das Ding ist ausgelutscht und die Mode passé. Ich schmeiße es trotzdem nicht weg, falls es in fünf Jahren vielleicht wieder cool ist.
Du liebst also Mode?
Ich glaube, ich war schon als Kind sehr stilsicher. Und ich war auch früher schon altmodisch und habe gerne Hemden getragen. Vielleicht kam das von meinem Opa in Spanien. Der trug immer ein gut geschnittenes Hemd. Ein klassischer, gut gekleideter Mann.
Du sitzt auch regelmäßig in der ersten Reihe von Fashion-Shows.
Zu bestimmten Leuten baut man einen Draht auf. Alessandro Sartori von Zegna ist so jemand. Er war auch schon auf meinem 30. Geburtstag. Wir kennen uns lange und mögen uns. Ich bin immer wieder erstaunt über den Druck, den Designer haben. Sich permanent neu erfinden, kreieren und immer nachliefern – das ist kreativ gesehen wahnsinnig anstrengend.
Roter Teppich, Premieren, Foto-Shootings. Wie viel Lust hast du darauf noch, wenn du ehrlich bist?
Wenn das Team nett ist, wie bei diesem Shoot, habe ich eine lustige Zeit und gewinne dem Ganzen Spaß ab. Für mich ist das alles kein Krampf, auch der rote Teppich nicht. Es ist, was es ist. Man muss es nicht wichtiger machen, als es ist.
Wie viele solcher Termine hast du neben deinen Drehs?
Wenn man gerade einen Film bewirbt und die ganze Zeit reist, kann es schon müßig und viel sein. Aber ich will mich wirklich nicht beschweren. Ich meine, wenn es bei Schauspielern gut läuft, ist das ein wahnsinnig toller Beruf. Wir werden gut bezahlt und erleben tolle Dinge.
Du hast Instagram erst spät für dich entdeckt. War dein Mitteilungsbedürfnis aufgebraucht?
Ich fand das zuerst alles totalen Quatschkram. Aber man kann tatsächlich auf eine charmante Art und Weise mit Leuten kommunizieren, die sich für einen interessieren. Solange es nicht zu viel Kapazität im Kopf einnimmt, ist es völlig okay.
Und wofür nutzen du Social Media jetzt?
Instagram treibt die Lust am Fotografieren wieder an. Ich fotografiere sehr gerne, eigentlich aber analog. Das macht mir großen Spaß. Außerdem lassen sich gut eigene Projekte oder auch karitative Sachen unterstützen.

Muss man sich, gerade wenn man in der Öffentlichkeit steht, engagieren?
Ich finde es gut und wichtig, Stellung zu beziehen, aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.Im letzten Jahr bin ich mal wieder auf die Straße gegangen, als ich festgestellt habe, wie lange ich nicht mehr auf Demonstrationen war. Ich habe sogar viele bekannte Gesichter gesehen. Wir haben wirklich Glück, in eine Zeit geboren zu sein, in der es – zumindest in Europa – relativ viele unbeschwerte Jahre gab. Dann ebbte das Engagement ab, weil man dachte, es läuft ja alles. Jetzt gibt es wieder genug Gründe, um aktiv zu sein: Klimawandel, die Flüchtlingskrise und der Rechtsruck, der überall durch die Welt geht.
Du hast dich von deinem spanischen Namen getrennt. Sind dir die Spanier eigentlich böse?
Ich finde es schön, dass es den Doppelnamen gibt und der andere Teil genauso wichtig ist. Aber ich bin nun mal mehr Deutscher, weil ich hier aufgewachsen bin. Es wäre in Köln doch sehr seltsam gewesen, wenn ich in der Schule noch mit César Martin aufgerufen worden wäre. (lacht)
Wie wirst du von deinen Freunden genannt?
Im Spanischen höre ich meinen Spitznamen total gerne, den ich im Deutschen nicht ertragen kann. "Daaani" klingt wirklich nicht sehr charmant. "Danni" dagegen viel netter. Das ist sogar cool.
Wie cool findest du deinen Bart?
Ich habe keine Lust mehr drauf. Er kommt gleich nach den Dreharbeiten ab.

Wenn du noch mehr von Daniel Brühl sehen möchtest: Die 1. Staffel von "The Alienist - Die Einkreisung" ist auf Netflix verfügbar.