Sport und ausgewogene Ernährung sind gesund, das ist unumstritten. Bei einigen Sportlern geht es allerdings nicht mehr um Gesundheit oder Wohlbefinden, es zählt nur, wie sie noch schlanker und muskulöser werden können. Sie trainieren bis zum Kollaps, essen nach einem strengen Plan und sind doch nie mit sich zufrieden. Diese Krankheit nennt sich Muskelsucht, auch Muskeldysmorhphie und "Reverse Anorexia", und ist die einzige Essstörung, die häufiger bei Männern auftritt als bei Frauen.
Muskelsucht oder Adonis-Komplex, was steckt dahinter?
Muskelsüchtige eifern einem durchtrainierten Körper hinterher, der ein Sinnbild für Männlichkeit und Attraktivität ist. Es soll immer mehr Muskelmasse aufgebaut werden, deswegen wird das Problem auch Biggerexie genannt (von engl. bigger=größer). Doch trotz ständigem Training scheinen sie dieses Ideal nie zu erreichen. "Wie bei einer Magersucht nehmen sie ihren Körper verzerrt und mangelhaft wahr", beschreibt Dr. Claussen von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Heißt, der größte Muskelprotz sieht im Spiegel immer noch eine schmächtige Bohnenstange. Deshalb trainieren die Betroffenen weiter, schaufeln Proteine in sich rein und nutzen jede freie Minute zum Pumpen. "Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, ob die Muskelsucht, auch Muskeldysmorphie genannt, eine Ess- oder eine Zwangsstörung ist", so der Mediziner. "Allerdings gleichen nahezu alle Symptome denen einer Magersucht, nur dass die Betroffenen sich eben nicht als zu dick, sondern zu dünn bzw. nicht ausreichend muskulös wahrnehmen, deshalb auch der Name Reverse Anorexia."
Es gibt verschiedene Ausprägungen. Betroffene wollen entweder immer mehr an Muskelmasse zulegen oder achten penibel darauf, weder Muskeln ab- noch aufzubauen, um ihr Idealgewicht zu halten. In beiden Fällen halten sie einen strengen Ernährungs- und Sportplan ein. Fressattacken oder eine Kombination mit Orthorexie, dem zwanghaften gesunden Essen, sind ebenso möglich wie eine gleichzeitige Sportsucht. Bei der steht der Sport selbst aber im Vordergrund, nicht die Muskeln.
Wie entsteht die Sucht nach Muskeln?
Eigentlich sind Sport und gesunde Ernährung ja etwas Gutes. Fitness und ein gesunder Körper sind in den letzten Jahrzehnten auch für Männer immer wichtiger geworden. Das Ideal sind Arme wie Mark Wahlberg oder ein Sixpack wie Channing Tatum. "Ein durchtrainierter Körper ist Zeichen der physischen Stärke, scheint der Schlüssel zum Erfolg im Beruf und bei Frauen zu sein, er ist das Symbol für die männliche Identität", beschreibt Carolin Martinovic vom Therapienetz Essstörung. Also ab ins Gym und Hanteln stemmen, danach ordentlich viel Eiweiß essen. Die ersten Erfolge kommen schnell, es gibt neidvolle Blicke von Freunden und Frauen streichen bewundernd über den neuen Bizeps. Fühlt sich gut an, oder? Ist es bis jetzt auch.
Kritisch wird es aber, wenn Training und Ernährung den Alltag komplett bestimmen und eventuell sogar der Gesundheit schaden. Oder der Betroffene versucht, mit dem Sport über Probleme hinwegzukommen. Ist die natürliche Grenze an Muskeln erreicht, wird auch häufig auf Steroide zurückgegriffen, um doch noch mehr oder leichter Masse aufzubauen. Die sind nicht nur teuer, sondern haben auch viele Nebenwirkungen.
Die Gefahren bei einer Muskelsucht
Wenn Sport und Ernährung kein Hobby mehr sind, sondern zum Lebensmittelpunkt werden, kann das für den Betroffenen ernsthafte Folgen haben. Nicht nur, dass ein normales und genussvolles Leben nicht mehr möglich ist, Dr. Claussen beschreibt auch diese körperlichen und psychischen Schäden:
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Überanstrengung: Exzessiver Sport ohne genügend Renegeration kann zu einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit oder ständiger Abgeschlagenheit und Müdigkeit führen.
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Mangelerscheinungen: Wenn die Ernährung allein auf den Muskelaufbau abgestimmt ist, fehlen an anderer Stelle Nährstoffe. Gerade Sportler haben einen erhöhten Nährstoffbedarf, deshalb ist eine ausreichend ausgewogene und genussvolle Ernährung hier umso wichtiger. Von Salat ist immerhin noch kein Bizeps geschrumpft.
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Impotenz: Wenn Sportler Anabolika benutzen, zahlen Sie dafür einen entmannenden Preis: Die Medikamente unterdrücken die Spermienproduktion und können sogar unfruchtbar machen. Auch ständige Überanstrengung wirkt sich auf die Libido aus, da sie den Testosteronhaushalt durcheinanderbringt.

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Herz-Kreislauf-Probleme: Anabolika beeinträchtigen nicht nur die Potenz, sondern auch das Herz: Da auch hier Muskeln aufgebaut werden, wird das Herz zu dick und kann nicht mehr vernünftig arbeiten. Symptome sind unter anderem Herzrhythmusstörungen oder Wassereinlagerungen.
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Abhängigkeit: Ist kein Training möglich, fällt der Betroffene in ein Loch, ist schlecht drauf und reizbar. Wenn der Betroffene Steroide nimmt, kann er auch von diesen Hormonen abhängig werden.
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Depression: Wenn man im Spiegel immer nur etwas sieht, das nicht den eigenen Idealen entspricht, wird man unzufrieden. Auf Dauer macht das unglücklich und kann sogar zu Depressionen führen.
Welche Männer sind besonders gefährdet?
"Menschen mit einer Muskelsucht haben häufig Probleme, mit Konflikten umzugehen", beschreibt Martinovic. Wie alle anderen Essstörungen ist sie vor allem eine Bewältigungsstrategie. Probleme im Job, Stress in der Beziehung oder Unzufriedenheit mit sich selbst werden beim Sport ausgeblendet und Anerkennung für wachsende Muskeln pushen das Ego. Die Expertin nennt unter anderem diese Risikofaktoren für ein gestörtes Ess- und Sportverhalten:
- Körperunzufriedenheit: Allem voran steht die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Eine Essstörung basiert sehr häufig darauf, dass man seinen Körper nicht so wahrnimmt, wie man ihn gern hätte.
- Charakter: Muskelsüchtige sind häufig perfektionistisch und leistungsorientiert, haben auf der anderen Seite aber ein geringes Selbstwertgefühl und wollen Probleme mit sich allein lösen.

- Essstörungen in der Familie oder dem sozialen Umfeld: Wenn die Eltern kein normales Verhältnis zum Essen oder Aussehen haben, sind auch die Kinder anfälliger für solch ein Verhalten. Auch wenn das Aussehen im sozialen Umfeld ein wichtiges Thema ist, erhöht das die Anfälligkeit.
- Mobbingerfahrungen: Gerade Männer, die früher wegen ihrer körperlichen Schwäche oder anderen scheinbaren Defiziten aufgezogen wurden, sind gefährdet.
Martinovic wünscht sich, dass sich vor allem Fitnesszentren und -trainer für das Thema sensibilisieren. Wenn Vorbilder wie etwa Trainer die Krankheit ernst nehmen, kann sie früher erkannt werden und bei Betroffenen kann die Hemmschwelle sinken, sich Hilfe zu holen.
Erste Anzeichen einer Muskelsucht
Es ist gar nicht so leicht, leidenschaftliches Trainieren von einer Muskelsucht abzugrenzen. Deshalb wird das Problem häufig erst spät oder gar nicht erkannt. Martinovic rät dazu, bei folgenden Anzeichen aufmerksam zu werden:
- Soziale Kontakte werden zugunsten des Trainings vernachlässigt.
- Jede Mahlzeit ist minutiös durchgeplant und ihre Zusammensetzung für den Muskelaufbau perfektioniert (lasst uns das Hähnchen mit Proteinpulver panieren!).
- Die Gedanken und die Tagesplanung kreisen ständig darum, wie man endlich das Sixpack rauskitzelt oder wie viel Hantelgewicht den nächsten Zentimeter Oberarmumfang geben. Auch im Gespräch mit anderen gibt es kaum ein anderes Thema.
- Krankheit, Urlaub oder sonstiger Trainingsentzug scheinen wie der absolute Albtraum.
- Wenn tatsächlich eine Trainingspause entsteht, treten Entzugserscheinungen wie depressive Verstimmungen oder Unruhe auf.
- Ständig sitzt die Angst im Nacken, Muskeln abzubauen.
- Wegen des schnellen Muskelaufbaus kann es zu Dehnungsstreifen kommen.
- Selbst- und Fremdwahrnehmung des Körpers passen nicht zusammen. Komplimente über Muskeln werden abgestritten oder klein gemacht. Auch versuchen einige Betroffene, durch Kleidung ihre Muskeln größer wirken zu lassen oder zu verstecken.
- Veränderungen durch den Gebrauch von Anabolika wie Akne, Stimmungsschwankungen oder Angstzustände.
Was kann ich bei Biggerexie tun?
Sie machen sich Sorgen, dass das Fitnessverhalten Ihres Kumpels oder Trainingspartners krankhaft ist? Dann lassen Sie sich beraten. Websites wie die vom Therapienetz oder der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich liefern Informationen zu dem Thema und viele Therapiezentren bieten auch online oder telefonische Beratungen an. Und dann heißt es in jedem Fall: den Betroffenen ansprechen und Unterstützung anbieten. Machen Sie ihm klar, dass Sie das Problem ernst nehmen und sich weder über ihn lustig machen noch deshalb schlecht von ihm denken. Ermutigen Sie ihn dazu, sich gegebenenfalls Hilfe zu holen, und haben Sie weiterhin ein wachsames Auge auf ihn.
Sport macht Spaß und ist gesund. Erst wenn Muskelziele zwanghaft werden und das normale Leben beeinträchtigen, ist Vorsicht geboten. Seien Sie deshalb aufmerksam, wenn ein Mensch aus Ihrem Umfeld ein unnormales Ess- oder Trainingsverhalten zeigt, und sprechen Sie es schnellstmöglich an.