Es gibt Menschen, die empfinden ein gewisses Unwohlsein, wenn die Volume-Anzeige beim TV oder Radio keine gerade Zahl ist. Und es gibt Menschen, die so lange an der Nagelhaut ihrer Daumen herumknibbeln, bis es weh tut und Blut kommt. Manche kneifen permanent die Augen fest zusammen – auch dann, wenn die Sonne überhaupt nicht blendet und wieder andere räuspern sich alle paar Minuten, obwohl da gar kein Frosch im Hals sitzt. Was ist das? Sind das Macken? Marotten? Liebenswürdige, kleine Ticks oder spricht man hier schon von einer ausgewachsenen Zwangsstörung? Kann man so ein Verhalten von allein wieder loswerden oder ist das schon ein Fall für die Couch?
Definition: Was ist überhaupt eine Macke?
Wer heute von einer Macke spricht, der meint meist eine Art Spleen, eine skurrile Eigenart, die andere vielleicht nicht nachvollziehen können, die aber letztlich niemandem wehtut. Eine Macke gibt man leichthin zu, sie macht einen manchmal ein stückweit liebenswert, hin und wieder interessant und vor allem menschlich. Denn das sind sie – etwas zutiefst Menschliches, das mehr oder weniger jeden begleitet und worüber man sich demnach also erst einmal keine Gedanken machen muss.

Welche Macken gibt es?
Macken sind so individuell wie ihre Träger selbst und verfolgen letztlich den Sinn und Zweck den Menschen zu entspannen. Denn für gewöhnlich treten Marotten vor allem dann auf, wenn wir unter Stress stehen oder in Phasen, in denen wir einfach nur runterkommen wollen. Das kann die Angewohnheit sein, sich beim Nachdenken mit dem Finger ständig über den Nasenrücken zu streichen oder vor dem Fernseher mit dem Bart zu spielen. "Diese Macken sind harmlos und so ziemlich bei allen Menschen vertreten", weiß Burkhard Ciupka-Schön, Diplom-Psychologe aus Krefeld und spezialisiert auf das Thema "Zwangsstörungen". So weit, so gut. Aber ab wann müssen wir uns denn dann Gedanken machen, ob die Marotte nicht doch zum Fall für den Psychologen wird?
Bestes Beispiel: Das Nägelkauen oder das permanente Knibbeln an den Fingern, Fingernägeln oder der Nagelhaut. Beim Anblick der Finger eines notorischen Knibblers kommt nämlich unweigerlich die Frage auf: Ist das wirklich eine harmlose Macke oder besteht hier nicht vielleicht doch Handlungsbedarf?
"Das Nägelkauen gehört zu den sogenannten Impulskontrollstörungen", sagt der Psychologe, "Das sind meist unbewusste, zwanghafte Handlungen, die vor allem dann auftreten, wenn derjenige unter Anspannung steht. Mitunter kann man diese Marotten auch aus eigener Kraft wieder loswerden", so Ciupka-Schön.
Wie kann man sich eine Macke oder eine Impulskontrollstörung abgewöhnen?
"Der erste Schritt ist, sich dieser zwanghaften Handlung bewusst zu werden und sie sich einzugestehen", sagt der Psychologe, "Wer feststellt, dass diese oder jene Handlung immer in bestimmten Situationen auftritt, der kann auch viel besser gegensteuern." Wer beispielsweise weiß, dass er vor dem Fernseher sitzend gerne immer an seinen Fingern herumknibbelt, könnte stattdessen einen Gegenstand in die Hand nehmen und sich daran "abreagieren".

Wann sollte man sich professionelle Hilfe suchen?
Allerdings fallen auch Handlungen unter die Kategorie "Impulskontrollstörung", die nicht selten ein Fall für den Fachmann sind, da der Zwang, sie auszuführen, einfach zu stark ist oder die Konsequenzen zu körperlichen Beeinträchtigungen führt. "Ein ganz typisches Beispiel ist die Trichotillomanie, also das zwanghafte Ausreißen von Haaren, das die Betroffenen so lange zelebrieren, bis der Kopf kahle Stellen aufweist oder blutet", weiß Ciupka-Schön.
Auch das sogenannte "Skin Picking", das krankhafte und zum Teil stundenlange Kratzen, Quetschen und Knibbeln an der Haut, fällt hierunter. Die Betroffenen wollen dabei ihre Haut möglichst von allen Unreinheiten wie Pickeln oder Mitessern befreien, um ein perfektes Hautbild zu erzeugen, erreichen aber das Gegenteil, weil es nicht selten zu Vernarbungen und schweren Schäden kommt.
"Eine Ersatzbeschäftigung ist auch hier ratsam, aber behandelt nicht die Wurzel des Problems", so der Experte, "Daher ist es ratsam sich professionelle Hilfe zu suchen und gemeinsam mit einem Therapeuten zur Ursache durchzudringen". Häufig gehen solche Impulskontrollstörungen mit einer depressiven Grundstimmung einher, die Betroffenen leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl, Konzentrationsstörungen und enormem Stress.
"Sigmund Freud hat mal eine sehr kluge Sache geäußert, nämlich, dass es dann gefährlich wird, wenn unsere Arbeits- und Liebesfähigkeit darunter leidet", so Burkhard Ciupka-Schön, Heißt konkret: Wenn die Macke anfängt uns selbst oder unser Umfeld zu beeinträchtigen, wir uns wegen ihr eingeschränkt fühlen, nicht mehr richtig konzentrieren können oder spüren, dass sie unsere Gedanken und unser Tun beherrscht, sollte man handeln.

Wann wird eine Macke zum Zwang?
"Häufig ist der Übergang von der Macke zum Zwang ein fließender", weiß der Psychologe, der täglich in seiner Praxis mit Menschen zu tun hat, die manchmal 20 Jahre und länger mit ihrem Zwang leben, bevor sie sich eine krankhafte Störung überhaupt eingestehen. Wer unter einem Zwang handelt, der kann eben nicht einfach damit aufhören, wenn er möchte und jeder Versuch, ihn zu unterbinden, verursacht eine enorme Anspannung und Angst im Betroffenen.
Ein typisches Beispiel ist der Kontrollzwang ("Habe ich wirklich den Herd ausgeschaltet?") oder auch der Waschzwang. "Eine Patientin von mir war gerade Mutter geworden und hat im Zuge dessen einen Waschzwang entwickelt. Sie war sich sicher, dass das ständige Händewaschen notwendig sei, um ihr Kind vor Krankheiten zu schützen", so der Psychologe, der seine Patientin während der Therapie davon überzeugen konnte, dass ihre Handlung keinerlei positiven Nutzen hat. Die Angst der Frau, die dahinter steckte, war schlichtweg die, keine gute Mutter zu sein.
Man geht davon aus, dass rund 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung unter einer Zwangsstörung leidet. Dazu zählen Zwangshandlungen, Zwangsimpulse wie auch Zwangsgedanken. Zu den häufigsten Zwangshandlungen zählen die bereits genannten Wasch- oder Kontrollzwänge, wie auch ein übertriebener Ordnungs- oder Zählzwang. Bei Zwangsimpulsen leiden die Betroffenen unter der Angst, sie könnten einem bestimmten Impuls nachgehen, beispielsweise jemanden zu verletzen oder von einem Hochhaus zu springen. Unter die Kategorie der Zwangsgedanken fallen quälende Gedanken und Vorstellungen, die sich dem Betroffenen unwillkürlich und permanent aufdrängen.
Wie werden Zwangsstörungen behandelt?
Es gibt eine Reihe verschiedener Methoden, um einen bestehenden Zwang zu therapieren. Letztlich kommt es ganz auf den Patienten drauf an, denn jedes Leiden ist individuell und bedarf einer ganz eigenen Herangehensweise. "Zwänge haben oft eine magische Komponente, die die Betroffenen veranlasst regelrechte Rituale zu kreieren und permanent durchzuführen", sagt Ciupka-Schön. Gedanken wie "Wenn ich dieses und jenes nicht mache, passiert etwas ganz Schlimmes" fallen hierunter. Ziel einer Therapie ist es dann, diese Befürchtung ad absurdum zu führen und dem Patienten zu zeigen, dass seine Handlungen tatsächlich keinerlei Einfluss haben.
Eine von Burkhard Ciupka-Schön präferierte Methode ist die sogenannte Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation. Dabei handelt es sich um eine Herangehensweise, bei der hohe Anspannung erzeugt wird und der Patient lernt, im Rahmen seiner Ängste wieder Risiken einzugehen und seine Anspannung zu akzeptieren.
Letztlich sollte sich jeder Macken-Träger einmal die Frage stellen, ob er oder sie durch die eigene Marotte im Alltag beeinträchtigt wird. Wer bislang dachte, sein notorisches Bartzwirbeln bei Konzentration sei ein Fall für den Doktor, dürfte jetzt also aufatmen. Sollten Sie allerdings Anzeichen für einen Zwang bei sich entdecken, scheuen Sie nicht den Gang zum Fachmann. Zwänge beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen enorm und können oft mit der entsprechenden Hilfe komplett verschwinden.

Unser Experte
Burkhard Ciupka-Schön ist Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Krefeld. Hier hat er sich auf das Thema Zwangserkrankungen spezialisiert. Er ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat gerade ein Buch zum Thema herausgebracht ("Zwänge bewältigen: Ein Mutmachbuch", Patmos, 18 Euro). Darin beschreibt er Strategien, wie Betroffene sich von störenden und mitunter gefährlichen Zwangshandlungen lösen können.