Wissen Sie eigentlich, warum sich der niederländische Maler Vincent van Gogh ein Ohr abschnitt? Angeblich versuchte er so, seinem Tinnitus-Leiden ein Ende zu setzen. Die Theorie ist in Fachkreisen umstritten, macht aber das Ausmaß der Qual deutlich: Das Ohrensausen, im Fachjargon auch Tinnitus aurium (lateinisch: Klingeln im Ohr) genannt, betrifft allein 19 Millionen Deutsche mindestens einmal im Leben. 2,7 Millionen von ihnen haben sogar einen dauerhaften Tinnitus und leiden extrem unter den Symptomen.
Stellen Sie sich nur einmal vor, jemand würde mit einer Trillerpfeife neben Ihnen stehen und 24 Stunden am Tag – ohne Luft zu holen – hineinpusten. Aber die Krankheit hat viele Ausprägungen, für andere Betroffene ist es eher als würde jemand neben ihnen permanent gegen eine Fensterscheibe klopfen. Man hört Geräusche also in unterschiedlichen Tonarten und Lautstärken, die von einem Piepen über ein Klopfen bis zu einem Dröhnen reichen können. Und das Schlimmste: Niemand sonst hört diese Geräusche, nicht mal der Arzt. Außengeräusche werden oft nur verzerrt wahrgenommen und machen den Alltag damit zum Martyrium.
Normalerweise hört der Mensch, indem die Schallwellen der Außengeräusche auf die Sinneszellen im Innenohr treffen. Diese Haarzellen senden elektrische Impulse zum Hörzentrum des Gehirns, wo die Informationen verarbeitet werden und so der normale Höreindruck entsteht. Sind die Haarzellen geschädigt, senden sie permanent fehlerhafte und verstärkte elektrische Impulse an das Hörzentrum, um die verringerte Hörfähigkeit in den geschädigten Frequenzen auszugleichen. Je nachdem, welche Haarzellen geschädigt sind, nimmt der Tinnitus verschiedene Töne an. Das Gehirn erzeugt so letztlich den Eindruck von Geräuschen, die gar nicht existieren. Selbst wenn Ärzte die Nervenverbindung zwischen Innenohr und Gehirn lahmlegen, lässt in den meisten Fällen der Tinnitus nicht nach, sondern wird, wenn überhaupt, nur geringfügig gelindert. Das bedeutet, nicht nur das Innenohr ist geschädigt, sondern auch bestimmte Areale im Gehirn spielen ständig verrückt.
>>> So reiningen Sie Ihre Ohren richtig
Oft ist ein Knalltrauma oder ein Hörsturz infolge von Lärm die Ursache für die Innenohrschädigung, aber auch Ohrenentzündung und Stress können Auslöser sein. In den meisten Fällen klingt das Geräusch von alleine wieder ab. Manchmal bleibt es jedoch über mehrere Monate bestehen. "Von einem chronischen Tinnitus spricht man, wenn der Tinnitus länger als 3 Monate anhält", erklärt Professorin Birgit Mazurek, Direktorin des Tinnituszentrums der Charité Universitätsmedizin in Berlin.
Die Folgen für die Betroffenen sind dabei vor allem von psychologischer Bedeutung. Der ständige Ton nervt nicht nur, sondern kann auch Panikattacken und Schlafstörungen auslösen, das Selbstvertrauen beeinträchtigen und in manchen Fällen sogar zu Depressionen führen. Mediziner teilen Tinnitus-Erkrankungen in 4 unterschiedliche Grade ein. Grad 1 und 2 sind die häufigsten Formen. Am erträglichsten ist Grad 1, bei dem der Tinnitus ab und zu auftaucht und die Patienten kaum beeinträchtigt. Grad 2 beschreibt einen Zustand, bei dem der Ton nicht mehr zu überhören ist, besonders bei Stress und psychischen Belastungen. Ist der Tinnitus nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken und hat Auswirkungen auf das berufliche und soziale Umfeld, entspricht dies Grad 3. Schwerstbeeinträchtigt bis hin zu einer Berufsunfähigkeit ist man bei Grad 4 – hier geht nichts mehr, der Tinnitus bestimmt das gesamte Leben.
Das Problematische daran: Niemand sonst kann die Geräusche hören, und deshalb wird ein Tinnitus häufig unter den Tisch gekehrt. Sowohl bei alleinigem Tinnitus als auch wenn zudem Schwindel, Druck auf dem Ohr oder ein Hörverlust auftreten, sollte man einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt aufsuchen. Und das so schnell wie möglich. Denn im Anfangsstadium lässt sich ein plötzlich aufgetretener (akuter) Tinnitus, der durch eine Innenohrschädigung entstanden ist, noch relativ gut behandeln. Man versucht dann, die Durchblutung im Innenohr an den geschädigten Zellen zu verbessern und so die normale Funktion wiederherzustellen. Das kann einerseits mit Infusionen oder mit Medikamenten passieren. Zusätzlich können bildgebende Diagnostiken wie Röntgenaufnahmen oder eine Magnetresonanztomografie (MRT) Auskunft darüber geben, ob nicht im Zweifelsfall auch ein Tumor am Innenohr der Auslöser für die Symptome sein könnte. Dies bestätigt sich allerdings nur in den allerseltensten Fällen.
>>> Die besten Tipps bei kalten Ohren
Nicht nur Schädigungen im Innenohr können Auslöser für die störenden Töne sein, auch Fehlstellungen im Kiefer- und Nackenbereich. Ist nächtliches Zähneknirschen eine mögliche Ursache für den Tinnitus, dann sollte ein Zahnarzt eine Beißschiene anfertigen. Außerdem können Orthopäden und Physiotherapeuten die Fehlstellungen über gezielte Übungen beheben.
Sind Arbeitsbelastung und Hektik im Alltag die Auslöser, hilft Ihnen vor allen Dingen eine drastische Stressreduzierung. Darüber hinaus können begleitend Entspannungs- und Psychotherapien sehr hilfreich sein.
>>> Die 10 besten Stress-Stopper
Eins steht aber fest: Je länger die Beschwerden bestehen, desto schwieriger sind sie zu behandeln. Bislang lässt sich ein chronischer Tinnitus leider noch nicht heilen. Vielmehr müssen die Patienten lernen, mit dem Geräusch im Ohr zu leben.
"In Berlin bieten wir multimodale Behandlungen an. Diese können neben der Aufklärung über den Tinnitus vor allem das Erlernen von Entspannungsstrategien, spezielle Hörtrainings, Therapiemethoden mit Hörgeräten und so genannten Noisern umfassen. Auch die psychotherapeutische Behandlung von Begleiterscheinungen wie Depressionen, Angst- oder Schlafstörungen kommt gegebenenfalls zum Einsatz", so Expertin Mazurek, die auch Vorstandsvorsitzende der Deutschen Tinnitus-Stiftung Charité ist. "Noiser maskieren nicht den störenden Ton, sondern sollen die Hörumlenkung trainieren. Ein Noiser sieht ähnlich wie ein Hörgerät aus. Er sendet einen dauerhaften Ton ab, der an das Rauschen eines alten Fernsehers erinnert, dadurch jedoch Ablenkung schafft und so vielen Patienten den Alltag erleichtert."
Absolute Ruhe ist übrigens keine gute Wahl, wenn man den Ton wieder loswerden will, weil die Stille das Piepen nur noch präsenter macht und sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, denn beim Betroffenen wird oft noch mehr Verzweiflung und Stress ausgelöst, was den Tinnitus sogar verschlimmert. Manche Patienten finden es aber hilfreich, leisen Alltagsgeräuschen wie Vogelgezwitscher oder Wassergeplätscher zuzuhören.
>>> Mit Minimalismus ein besseres Leben leben
Der zuverlässigste Schutz vor Tinnitus-Qualen ist in jedem Fall die Vorsorge. Jeder, der noch nicht betroffen ist, sollte sich diese 8 Tipps hinter die Ohren schreiben. Dann strotzen Ihre Haarzellen vor Kraft.
Nehmen Sie Ohrgeräusche nicht auf die leichte Schulter. Wer schnell handelt und zügig einen Arzt aufsucht, hat gute Voraussetzungen, nicht dauerhaft unter dem lästigen Lärm im Ohr leiden zu müssen. Und bleiben Sie wachsam: Wer Stress und Lärmquellen meidet, gibt dem Tinnitus erst gar keine Chance.