Zu viel sitzen
So viel Sitzen ist ungesund – warum nicht einmal Sport hilft

Bewegung hält gesund, soweit klar. Doch dass zu viel Sitzen krank macht, wissen die wenigsten. Das Erstaunliche: Selbst Sport hilft nicht dagegen
Wer im Alltag viel sitzt, den macht auch gelegentlicher Sport nicht richtig fit
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Setz dich jetzt bloß nicht hin! Oder sag zumindest nicht, wir hätten dich nicht gewarnt. Denn die Datenlage ist jetzt eindeutig, fast so wie beim Rauchen: Zu viel Sitzen bringt dich um. Rumhängen macht krank. Stillhalten kostet Lebenszeit. Ginge es nach den Experten des Sedentary Behavior Research Network (Netzwerk zur Erforschung sesshaften Verhaltens, SBRN), würde jedes Sofa, jeder Sessel und vor allem jeder Schreibtischstuhl mit Warnhinweisen wie dem obigen versehen. Im SBRN haben sich Experten aus aller Welt zusammengeschlossen, die der relativ neuen "Science of Sitting" (Erforschung des Sitzens) nachgehen. Ihr Logo: ein brennendes Sofa.

Welche körperlichen Auswirkungen hat das Sitzen?

Nicht nur für Rücken und Haltung ist Sitzen ruinös. Am meisten schockiert das, was ein Forscherteam der britischen University of Leicester berichtete, nachdem es die Daten von mehr als 21 000 Teilnehmern einer Studie ausgewertet hatte: Lange körperliche Inaktivität erhöht das Risiko des so genannten metabolischen Syndroms um 73 Prozent! Diese fatale Kombination aus Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhten Blutfett- und Blutzuckerwerten bezeichnen Mediziner häufig als "tödliches Quartett". Und das ist längst nicht alles: Es gibt Hinweise darauf, dass durch ausgiebiges Sitzen die Wahrscheinlichkeit steigt, an Prostata- oder Darmkrebs zu erkranken. Mehr als 6 inaktive Stunden täglich bedeuten ein um 40 Prozent erhöhtes Risiko, innerhalb der nächsten 15 Jahre zu sterben – verglichen mit denjenigen, die weniger als 3 Stunden am Tag bewegungslos verbringen. Zudem auf der Risikoliste: Gallensteine, Thrombosen, Herz-Kreislauf-Krankheiten, psychische Probleme.

Sport im Studio kann einen aktiven Alltag nicht ersetzen
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Sport im Studio kann einen aktiven Alltag nicht ersetzen

Warum schafft Sport keinen Ausgleich zum Sitzen?

Du denkst, das betrifft dich nicht, weil du jeden Tag Sport machst? Stimmt leider nicht. Denn das überrascht an den Ergebnissen am meisten: Für den schädlichen Effekt ist es fast egal, wie körperlich aktiv jemand sonst ist und was er auf die Waage bringt. Wie gesund du bist, hängt weniger als gedacht davon ab, ob und wie intensiv du trainierst, sondern vor allem davon, ob du viel oder wenig Zeit bewegungslos verbringst. Experten wie Dr. Birgit Sperlich von der Deutschen Sporthochschule Köln sagen es so: "Körperliche Inaktivität gilt inzwischen als unabhängiger Risikofaktor."

Grund dafür ist vermutlich die verheerende Wirkung des Sitzens auf den Stoffwechsel: "Wer längere Zeit inaktiv ist, gibt ihm keine Chance, rund zu laufen", erklärt Sportwissenschaftlerin Sperlich, die sich seit vielen Jahren mit Bewegung im Alltag beschäftigt. "Spätestens nach einigen Stunden auf dem Sofa fährt er auf einen Minimalmodus herunter."

Folge ist unter anderem ein sehr niedriger Kalorienverbrauch, denn schon im Stehen verbrennst du automatisch rund 50 Prozent mehr Energie als im Sitzen, weil die Muskulatur den Körper stützen muss. Außerdem bremst Bewegungslosigkeit das Enzym Lipoproteinlipase aus, so dass der Fettstoffwechsel durcheinandergerät. Die Muskeln nehmen dann geringere Mengen an den für die Fettverdauung erforderlichen Triglyceriden auf. Und: Das vorteilhafte HDL-Cholesterin wird zurückgefahren. Das sind nur einige der Effekte, die zu einer miserablen Gesamtlage des Stoffwechsels, der so genannten Sitzkrankheit (Sitting-Disease), führen – und die sich durch eine Stunde Fitness-Studio pro Tag nicht ausgleichen lassen.

Wenn man es genau überlegt, ist das alles auch kein Wunder: Zum sesshaften Verhalten zählen eben nicht nur die Stunden am Schreibtisch, sondern alle Aktivitäten im Wachzustand, die mit niedrigem Energieverbrauch einhergehen, also auch das Abhängen im Lieblingssessel, Fernsehen und die Zeit, die du sonst noch vor Monitoren – Smartphone, Tablet & Co. – verbringst. Auch wenn sich diese Geräte "mobil" nennen: Man nutzt sie fast immer im Sitzen.

Warum werden die Sitzzeiten in der Regel unterschätzt?

Pro Tag sind es ungefähr 8 Stunden, die der Durchschnittsmensch im Sitzen verbringt – also mehr, als er schläft. Das belegen Studien, für die Teilnehmer Sensoren trugen, die jede Bewegung festhielten. In Deutschland dürften derartige Erhebungen nur geringfügig besser ausfallen, vermutet Sperlich, auch wenn ihre aktuelle Befragung deutlich niedrigere Sitzzeiten ergab: bei Männern Durchschnitts­werte von 5 Stunden, bei Frauen noch eine Stunde weniger – wohl weil sie seltener Vollzeit im Büro sitzen und auch zu Hause (Faktor Hausarbeit!) mehr auf den Beinen sind. Allerdings: Die Teilnehmer mussten hier lediglich selbst einschätzen, wie viel sie sitzen. "Und das wird sehr leicht unterschätzt. Wir nehmen fast jede Mahlzeit sitzend ein. Wir sitzen im Auto auf dem Weg zur Arbeit und von dort zurück – und zwischendurch auch, wann immer wir können. Da kommt einfach enorm viel zusammen."

Nutze im Alltag jede Möglichkeit zur Bewegung
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Jede Treppe zählt: Nutze im Alltag jede Möglichkeit, dich zu bewegen

Sitzen ist nun mal nicht nur die Haltung, in der viele ihr Geld verdienen. Es verspricht auch Auszeit und Erholung. Die meisten Fußballfans sind in Wahrheit ganz froh, dass es in den Stadien kaum noch Stehplätze gibt. Bei der Arbeit bedeutet am Platz zu bleiben oft Zeitersparnis, und Zeit ist eine heißbegehrte Währung in der Welt der Vielbeschäftigten.

Als ein Ergebnis ihrer Studie präsentierte die Techniker Krankenkasse die Erkenntnis: Ältere sitzen weniger als Jüngere. Im Urlaub etwa gehen sie bevorzugt wandern, die Jüngeren an den Strand. Die Zahlen der Sportwissenschaftlerin Sperlich scheinen dies zu belegen: Danach bringen es laut Selbsteinschätzung die 18- bis 29-jährigen Männer durchschnittlich auf fast 2 Stunden mehr Sitzen als die über 65-Jährigen.

Außerdem steigen die Sitzzeiten mit dem Grad der Bildung: Männer, die 10 Jahre zur Schule gegangen sind, sitzen rund 1 Stunde mehr als die mit 12 Schuljahren. Und bei allen, die ein weiteres Jahr später abgingen, kommt noch einmal genauso viel Aktivität obendrauf.

Ein anderer Faktor, der die Sitzzeit erhöht, ist ein gutes Einkommen. Laut Sperlich hat dies auch damit zu tun, dass gut gebildete Beschäftigte häufiger am Schreibtisch und eben nicht im Stehen oder Gehen arbeiten. Es ist jedoch ein Mythos, dass die viele Sitzerei ausschließlich dem riesigen Arbeitspensum geschuldet sei: "Unsere Daten belegen klar, dass die Aktivität am Wochenende noch geringer ist als während der Arbeitstage", sagt Sperlich. "Das bedeutet: Niemand zwingt uns dazu, es ist unsere freie Entscheidung – der Mensch ist einfach eine inaktive Spezies." Für junge Männer mit guter Ausbildung gilt das offenbar ganz besonders.

Warum hilft Sport nicht gegen zu viel Sitzen?

Der US-Mediziner Professor James Levine von der Mayo Clinic in Rochester bringt es auf den Punkt: "Menschen sind dazu gemacht worden, zu jagen und zu sammeln, zu sähen, zu ernten und den Tag damit zu verbringen, Tausende von Kalorien durch dauernde Bewegung zu verbrennen – nicht dafür, 20 oder 30 Minuten wie irre auf einem Laufband zu rennen, dabei vielleicht 200 Kalorien zu verheizen und 15,5 Stunden am Tag fast bewegungslos zu sitzen."

Levine ist Vorreiter der Anti-Sitz-Bewegung. Er hatte schon 1999 herausgefunden, dass es für den Stoffwechsel am besten ist, sich den ganzen Tag über immer ein wenig zu bewegen statt ein paar Mal die Woche intensiv. Seine Devise: Schafft mehr Bewegung im Alltag! Rolltreppen, Pizza-Services, Online-Shops, Drive-ins und Fernbedienungen seien Killer des Stoffwechsels und generell zu meiden.

Levine spricht von Nonexercise Activity Thermogenesis, oder kurz: NEAT. Gemeint sind Kalorien, die man bei einem aktiven Lebensstil verbraucht, etwa: öfter stehen, zur U-Bahn oder zum Briefkasten gehen, Getränkekisten schleppen, mit der Faust auf den Tisch hauen oder was auch immer. Levine zufolge können Sie durch NEAT allein im Büro pro Woche bis zu 2100 Kalorien verbrennen. Das sorgt nicht nur für weniger Übergewicht, es beugt außerdem Herzproblemen vor und verhilft jedem zu mehr Energie und mehr Glück, so der Wissenschaftler. Sogar starke Muskeln verspricht er, denn durch das Sitzen erschlaffen unter anderem die Rücken- und Schultermuskeln, so dass Schreibtischtäter oftmals schon an ihrer schlechten Haltung zu erkennen sind.

Versuche, auch im Büro weniger zu sitzen
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Auch im Büro sollte man immer wieder im Stehen arbeiten

Wie viel Sitzen ist noch in Ordnung?

Das weiß bis heute niemand so ganz genau. Entsprechende Studien laufen zum Beispiel in Australien, aber für handfeste Aussagen reichen die Erkenntnisse bislang noch nicht aus. Darum, sagt Expertin Sperlich, fehlen auch offizielle Empfehlungen mit konkreten Zeitangaben, etwa von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Niemand kann sagen, ab wann schädliche Wirkungen einsetzen und welche Sitzzeiten der Stoffwechsel noch verzeiht. "Vorerst gilt darum: man sollte so wenig wie nur möglich sitzen", sagt Sperlich. "Und lässt es sich gar nicht vermeiden, sollte man wenigstens zwischendurch mal aufstehen, wann immer es geht." Idealerweise machst du dann auch gleich ein paar Schritte – die Regel lautet: "Stehen ist besser als Sitzen, Gehen ist besser als Stehen."

Wie bringt man mehr Bewegung in den Alltag?

Du kannst zum Beispiel auch im Stehen telefonieren. Oder mit Kollegen einen Spaziergang machen, um Dinge zu bereden – Walk and Talk als Alternative zu einem Meeting im Konferenzraum. Benutze stets die Treppe und meide den Lift. Suche, wenn’s so weit ist, die am weitesten entfernte Toilette auf. Schon kleine Bewegungspausen bringen wirklich etwas, so ein Forschungsresultat von Sperlich. Sie ließ Büromenschen im Verlauf eines 8-Stunden-Arbeitstages einmal in der Stunde 5 Stockwerke hoch und wieder runter laufen. "Die Läufer fühlten sich nicht nur viel besser, sie haben dadurch auch pro Arbeitswoche über 600 Kalorien mehr verbraucht."

Noch besser: Kündige deinem Bürostuhl fristlos. Probier aus, ob du zum Beispiel auch an einem Stehpult arbeiten könnest. Oder stell deinen Laptop auf ein freigeräumtes Regalbrett in Bauchnabelhöhe. Oder mach es wie Professor Levine: Er hat sich schon vor Jahren ein Laufband unter seinen Schreibtisch montiert, auf dem er ganz langsam läuft, während er am Computer arbeitet, telefoniert, schreibt.

In einer solchen Welt der Bequemlichkeit ist es mit dem Sitzen so, wie es lange Zeit auch mit dem Rauchen war: Keiner denkt darüber nach. Niemand glaubt, dass es ungesund sein könnte. Alle tun es, und zwar ständig, so dass man gar nicht darauf kommt, es könnte etwas daran nicht in Ordnung sein. Keine Sorge: Es wird nicht so weit kommen, dass das Sitzen in allen Restaurants verboten ist, wie heute das Rauchen. Aber vielleicht kriegen wir dich dazu, stets zu Fuß zum Essen zu gehen – und einen kleinen Spaziergang dranzuhängen. 

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05 / 2023

Erscheinungsdatum 12.04.2023