Nur wenige Moves sind so fordernd wie der Muscle-Up – und doch treibt US-Athlet William Santiago das Ganze auf die Spitze. Mit einer 22-Kilo-Scheibe um die Hüfte geschnallt steht der 77 Kilo schwere Athlet im Chiseled Life Gym in Columbia, Maryland, an der Stange. Chalk an den Händen, tiefer Atemzug – und dann zieht er sich explosiv nach oben, bis Brust und Hüfte über der Stange sind. Ein kontrollierter Lockout, ein erleichterter Seufzer, Jubel. Die Menge tobt.
Santiago ist einer von 22 Teilnehmenden bei den US-Meisterschaften im Streetlifting – einer Disziplin, die Bodyweight-Training auf das nächste Level hebt. Hier geht es darum, klassische Übungen wie Klimmzüge, Dips oder Muscle-Ups mit Zusatzgewicht zu meistern. Ziel: pure Kraft, funktionale Muskeln und jede Menge Spaß an der Bewegung.
Was Streetlifting so besonders macht
Während klassisches Krafttraining oft auf Masse und maximale Gewichte setzt, dreht sich beim Streetlifting alles um Körperkontrolle und Bewegungsqualität. Statt Hantelstangen zu stemmen, hebst du dein eigenes Körpergewicht – plus ordentlich Zusatzlast.
Wettkämpfe bestehen aus 4 Hauptübungen: Muscle-Ups, Klimmzüge, Dips und Kniebeugen. Man hat 3 Versuche pro Übung, 6 Minuten Pause dazwischen – und wer das meiste Gesamtgewicht schafft, gewinnt. Spannend: Dank eines speziellen Bewertungssystems können auch leichtere Athlet:innen ganz oben mitmischen.
Die Anfänge: Wie der Trend begann
Streetlifting hat seine Wurzeln in Europa. "Alles startete 2014 in der Ukraine", erzählt Tonio Zeidler, Gründer von Final Rep in Deutschland – heute die führende Organisation des Sports. Eine kleine Gruppe Calisthenics-Athlet:innen hatte genug von endlosen Wiederholungen. Also griff jemand zur 47-Kilo-Kettlebell – und plötzlich war eine neue Trainingsform geboren.
Von dort verbreitete sich der Trend rasant: Parks in Deutschland, Italien und Frankreich wurden zu Outdoor-Gyms, in denen Streetlifting zur Kultbewegung heranwuchs. 2017 folgte die Gründung der International Streetlifting Federation in Russland. Mit der Zeit kamen neue Disziplinen, striktere Regeln und eine klare Struktur hinzu. Als Reaktion auf Spott über "Zahnstocherbeine" wurde sogar die Kniebeuge fester Bestandteil der Wettkämpfe.
Heute steht Streetlifting für das Beste aus zwei Welten: rohe Power und präzise Kontrolle – das perfekte Training für alle, die ihren Körper wirklich beherrschen wollen.
Streetlifting: Die neue Bewegung, die die Fitnesswelt verändert
Seit sich die Welt nach der Pandemie wieder geöffnet hat, erlebt Streetlifting einen echten Boom. Final Rep organisiert heute Wettkämpfe auf der ganzen Welt – und die Zahlen sprechen für sich: 2023 traten rund 5.500 Athlet:innen bei 16 Events auf vier Kontinenten an.
Der Grund für diesen Erfolg? Streetlifting ist einfach, direkt und unglaublich motivierend. Kein kompliziertes Regelwerk wie beim CrossFit, keine hochkomplexen Techniken wie beim Powerlifting – nur du, dein Körper und pures Gewicht.
Der Reiz der Einfachheit – und der Community
Diese Zugänglichkeit zieht Menschen aus allen Lebensbereichen an. Einer von ihnen ist Eugene Jimenez, 28, Wissenschaftler aus New Jersey. Nach Jahren im Powerlifting fand er 2023 im Streetlifting seinen "perfekten Mittelweg": die Kombination aus Muskelbrennen bei Klimmzügen und Dips – und dem Adrenalinschub schwerer Kniebeugen. Er brachte den Sport in die USA und gründete USA Streetlifting.
Auch Theo Marques Lopez, 23, Bauingenieur und amtierender US-Champion, schwärmt von der Energie des Sports: "Wenn du auf der Plattform stehst und die Menge deinen Namen ruft, fühlst du dich unbesiegbar." Lopez, selbst nur 65 Kilo schwer, stemmt beeindruckende Gewichte – 67 Kilo im Klimmzug, 85 Kilo im Dip, 30 Kilo im Muscle-Up und 165 Kilo in der Kniebeuge.
Doch Streetlifting ist nicht nur etwas für Leichtgewichte. Auch massive Athleten wie Stephen Navaretta, 41, zeigen, was möglich ist: Er schafft Muscle-Ups mit 31 Kilo Zusatzgewicht – bei einem Körpergewicht von 95 Kilo. "Klar ist es härter", lacht er, "aber genau das macht es so verdammt gut – du spürst echte Power."
Streetlifting ist Training mit Fokus und Technik
Im Gegensatz zu CrossFit geht’s im Streetlifting nicht um Ausdauer, sondern um Kontrolle, Präzision und rohe Kraft. Man trainiert ähnlich wie beim Powerliften: wenige, schwere Wiederholungen, perfekte Technik. Typisch sind 3 bis 4 Sätze Dips oder Klimmzüge mit so viel Zusatzgewicht, dass 6 bis 8 Wiederholungen zur echten Herausforderung werden.
Das Beste: Du brauchst kaum Equipment. Eine Stange, ein Gürtel mit Gewicht, vielleicht ein paar Hantelscheiben – und los geht’s. Genauso fing auch William Santiago an. Als Teenager in der Bronx bekam er zu Weihnachten eine Klimmzugstange, brachte sich selbst Muscle-Ups bei und entdeckte Streetlifting durch YouTube. Ein Zufall im Park – ein Mann, doppelt so schwer wie er, zog sich mühelos über die Stange – weckte seinen Ehrgeiz.
Heute, mit 27, hält Santiago den US-Rekord im Muscle-Up seiner Gewichtsklasse (79 kg). Nur wenige weltweit können ihm das nachmachen. Auf seinem Lifting-Gürtel steht sein Spitzname: Pioneer. "Ich bin ein Pionier – und das trage ich mit Stolz", sagt er. "Ich kämpfe, weil ich Geschichte schreibe – auf meine eigene Art."
FAQ zu Streetlifting
Ja – absolut. Viele starten mit einfachem Calisthenics-Training, bevor sie Zusatzgewicht verwenden. Wichtig ist, zuerst die Technik bei Übungen wie Klimmzügen oder Dips zu beherrschen. Danach kannst du langsam mit kleinen Gewichten beginnen und dich steigern.
Die meisten Athlet:innen trainieren drei- bis viermal pro Woche. Entscheidend ist die Regeneration: Da Streetlifting sehr intensiv ist, brauchen Muskeln und Gelenke ausreichend Erholung, um stärker zu werden und Verletzungen zu vermeiden.
Nicht viel – das ist das Schöne an diesem Sport. Eine stabile Klimmzugstange, ein Dipping-Bereich und ein Gewichtsgürtel mit Hantelscheiben reichen völlig aus. Wer möchte, kann zusätzlich Chalk für besseren Grip oder Handgelenkbandagen nutzen, um die Belastung zu reduzieren.





