Abseits präparierter Pisten
Das müssen Sie über Freeriding wissen

Ideal für freie Abfahrten: die unberührten Gipfel Russlands. Unser Reporter ist schon mal vorgefahren und gibt Tipps fürs perfekte Powdervergnügen
Frei Schnauze
Foto: Roberto Caucino/ Shutterstock.com

Meine Finger zittern. Nicht vor Kälte, sondern weil ich Angst habe. Angst, dass sich gleich die Tür des Helikopters öffnet, in dessen hinterster Ecke ich kauere. Krampfhaft klammere ich mich an meine Skistöcke, konzen­triere mich auf das, was in wenigen Augen­blicken bevorsteht: das erste Mal Heliskiing – mit dem Hubschrauber rauf auf verlassene Gipfel und dann in feinstem, unberührtem Tiefschnee abwärtsgleiten. "Eine neue Spur in den Powder ziehen, allein sein mit der ­Natur, das ist das vollkommene Freiheits­gefühl", sagt der britische Snowboard-Profi James Stentiford. James wird im Powder-Paradies Krasnaja Poljana nicht von meiner Seite weichen.

Krasnaja was? Spätestens 2014 werden Sie sich diese Frage nicht mehr stellen. Dann trägt das 40 Kilometer entfernte Sotschi in Russland die Olympischen Winterspiele aus. Rund ums Gebirgsdorf Krasnaja Poljana finden die alpinen Wettbewerbe statt. Als sich die Tür unseres alten Mi-8-Heli­kopters öffnet, schleudert mir eisiger Wind Schnee in Form scharfkantiger Hagelkörner ins Gesicht. Die Rotorblätter brüllen mit ­einer Kraft, die fast mein Trommelfell zerfetzt. Da soll ich raus? Jetzt? "Keep cool", schreit James. Cool? Trotz Kälte wird mir heiß. Ich schließe die Augen, will mich beruhigen, gehe in Gedanken die Punkte durch, die mir Bergführer und Freeride-Experte ­Flory Kern im Vorfeld eingetrichtert hat. Okay, nur wenn ich alle Kriterien erfülle, werde ich aus dem Heli springen.

Der 6-Punkte-Check:

1. Check: Fitness-Zustand
Die Theorie: Ob Snowboarder oder Skifahrer, ohne gute Kondition ist der Spaß fernab überfüllter Pisten schnell vorbei. Denn in unbekanntem Gelände, auch Backcountry genannt, verändert sich die Belastung oft ruckartig: Im einen Moment gleitet man schier schwerelos dahin, Sekundenbruchteile später muss man Hindernissen aus­weichen oder an einem Hügel zum Sprung ansetzen. "Um solche Belastungsspitzen so oft und so lange wie möglich auszuhalten, ist eine Top-Kraftausdauer Voraussetzung", sagt Experte Kern www.flory-kern.de.

Die häufigste Freeride-Verletzung sind Bänderrisse im Knie, da die Muskulatur rundherum besonders gefordert, oft aber nicht ausreichend ausgebildet ist. Deshalb drei Monate, bevor es in den Schnee geht, zweimal wöchentlich biken oder joggen. Plus: gezieltes Ober- und Unterschenkel-Krafttraining. Auch ein gutes Reaktionsvermögen ist wichtig – sonst verlieren Sie die Kontrolle, wenn Steine am Brett kratzen oder sich das Gelände ändert.

Meine Praxis: In puncto körperliche Fitness habe ich eigentlich keine Bedenken – ein Hoch auf die Joggingrunde an der Hamburger Alster und das wöchentliche Redaktions­kicken. Aber Reaktionsvermögen? Münchhausen ist schuld daran, dass ich stark an meiner geistigen Frische zweifle. Der Lügenbaron? Nein, die einzige Après-Ski-Bar des Dorfes trägt dessen Namen, und gegen die russische Wodka-Trinkfestigkeit und die alle zwei Minuten nachfüllenden Kellner sind Westeuropäer absolut chancenlos.Da das Adrenalin aber den Restalkohol in meinem Körper verdrängt hat, ist Check 1 bestanden.

2. Check: Ortskenntnisse
Die Theorie: Freeriden in unbekanntem Terrain birgt viele Gefahren: versteckte Schluch­ten, Felsvorsprünge, Wetterumschwünge. Wagen Sie sich daher nicht auf die Bretter, wenn nicht mindestens einer aus ­Ihrer Gruppe (am besten Sie selbst) das Skigebiet kennt. Außerdem: immer eine Übersichtskarte (Maßstab 1:25000) mitführen, die geplante Route am Abend vorher mit den Kumpels absprechen. "Im Vorfeld den Lawinen-Lagebericht und die allgemeine Wettervorhersage checken", rät Kern. Als Orientierungshilfe dient eine europaweit eingeführte Skala von 1 (geringe Lawinengefahr) bis 5 (sehr groß). Ab 4 gilt: Auf keinen Fall die präparierten Pisten verlassen.

Ideal: immer einen ortskundigen, erfahrenen Skiguide dabeihaben. Pflicht ist auch, die fahrerischen Qualitäten der Gruppe einschätzen zu können. "Sie müssen wissen, wer die Schwächsten innerhalb des Teams sind, um diese im Notfall besonders im Auge zu behalten", erklärt der Bergführer.

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10 / 2023

Erscheinungsdatum 20.09.2023