Nur noch zwei Griffe und ein Tritt, dann bin ich oben. Ich stehe auf einem kleinen Felsvorsprung, sichere mein Seil in den Umlenkkarabiner und rufe "Take!" nach unten. Mein Partner 20 Meter unter mir zieht das Seil straff. Bevor ich das Kommando zum Ablassen gebe, lasse ich meinen Blick schweifen. Und der ist wirklich atemraubend. 100 Meter unter mir das Arve-Tal, direkt gegenüber die Gletscher der Aiguille du Midi, mit knapp 4000 Meter der imposante Fels-Vorposten des höchsten Berges Westeuropas: dem Mont Blanc. Wahnsinn! Ich stehe am höchsten Punkt der Gailland-Wand, einem kleinen Klettergarten in der Nähe des Skiorts Chamonix-Mont-Blanc – mitten in den französischen Alpen. Nicht schlecht für meinen ersten Ausflug aus der Kletterhalle an den echten Fels. Warum habe ich das nicht schon früher gemacht? Felsklettern ist ganz anders und viel aufregender als Klettern in der Halle.
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Der Indoor-Kletter- und Bouldersport boomt. Doch viel weniger wagen den Weg an den Fels, dorthin, wo der Kletter-Sport eigentlich herkommt. Klar, hat Felsklettern ein paar Nachtteile: die langen Anfahrtswege (schließlich wohnt nicht jeder in Gebirgsnähe), zusätzliche Ausrüstung und auch das Wetter sollte passen. Doch die Vorteile überwiegen deutlich:
"Willkommen an meinem Arbeitsplatz", begrüßt uns Gaspard Valette Morel, Klettertrainer aus Chamonix, Frankreich, als wir unsere Ausrüstung auspacken. Es sind 25 Grad, Sonnenschein, um uns herum die französischen Alpen. Ein Outdoor-Workout an der frischen Luft mit diesem grandiosen Panorama schlägt jede Kletterhalle der Welt. Außerdem ist Felsklettern viel abwechslungsreicher, weiß der Experte. Es gibt keine Laborbedingungen wie in der Halle. Nichts ist farblich markiert, es ist nicht sofort überschaubar, wo es lang geht. Der Fels gibt die Route vor und jeder Riss, jedes Loch, jede Platte ist anders. Es geht nicht um Zeit, es ist mehr eine Art Abenteuer, natürlich auch mit mehr Risiko, ein echtes Naturerlebnis eben.
Natürlich bin ich nicht einfach an den Fels gereist und losgeklettert. Auch wenn der Umstieg von der Halle an den Fels nicht kompliziert ist, gibt es doch ein paar Dinge zu beachten und zu lernen – am besten in Begleitung eines erfahrenen Kletterers. Das sagt auch Kletterlehrer Gaspard, der mir an diesem Tag im Rahmen eines Kurses der Arc'teryx Alpine Academy, die einmal jährlich in Chamonix stattfindet, die Techniken und Besonderheiten des Felskletterns erklärt. Beste Adresse für die ersten Griffe und Schritte am Fels: ein so genannter Klettergarten. Das ist ein Bereich von Felsen, der mit Bohrhaken, Umlenkern und anderen Sicherungsmitteln fürs Felsklettern präpariert wurde. Es gibt hier – ähnlich wie in der Halle – vordefinierte Routen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden.
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Bevor wir loslegen erklärt uns Gaspard die wesentlichen Unterschiede zur Halle. "Wir müssen unsere Sicherungen selbst mitbringen, einhängen und wieder abbauen", sagt der Kletterlehrer. Damit meint er die so genannten Expressen, mit einer Schlinge verbundenen Karabiner, die als Zwischensicherungen beim Vorstiegsklettern verwendet werden – und anders als in der Halle nicht bereits an der Wand hängen. Hier gibt es nur die Sicherungshaken im Fels. Das heißt auch, dass ich beim Einhängen der Expressen in die Haken und Clippen des Seils mehr Zeit brauche und damit auch mehr Ausdauer. Plus: Der letzte Kletterer der Route muss beim Abseilen alles wieder abbauen.
Zudem sind die Abstände der Zwischensicherungen anders als in der Halle. "Haken sind oft meterweit voneinander entfernt. Auch ist der Boden nicht gefedert, gibt – anders als in der Halle – nicht nach, wenn man fällt", erklärt Gaspard. Vor meiner ersten Route hole ich einen weiteren wichtigen Gegenstand aus dem Rucksack: den Helm. Der ist Pflicht, denn im Fels kann immer mal wieder loses Gestein liegen, das von einem selbst oder anderen Kletterern losgetreten wird. Auch der Sichernde sollte einen Helm tragen, nicht nur gegen Steinschlag. Der Vorsteiger könnte schließlich auch aus Versehen eine Expresse fallen lassen, gibt der Experte zu bedenken.
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Dann ist es soweit. Bepackt mit Expresschlingen setze ich meine ersten Griffe und Tritte am Fels – und merke gleich: Das ist anders. Die Orientierung ist neu für mich. Hier gibt der Fels die Linie vor, nicht die farblich markierten Griffe. Es ist gar nicht so einfach, Griffe und Tritte zu erkennen. Ich orientiere mich tatsächlich zunächst an Chalk-Spuren früherer Kletterer am Fels, im Laufe des Tages werde ich allerdings immer besser und merke – obwohl wir für den Kurs leichte Routen klettern – ein wenig die Erschöpfung. Denn Outdoor-Klettern kann im Gegensatz zur Halle anstrengender sein: Die unebenen Böden, das lockere Gestein und auch das Gepäck schlauchen ein wenig – vermutlich auch die Höhe.
Da in Klettergärten keine Toprope-Seile hängen, ist das Klettern im Vorstieg Pflicht (dabei hängt der Kletternde sein Seil selbst in die Haken der Zwischensicherungen ein) – zumindest für einen der Kletterpartner. Einsteiger sollten einen Schwierigkeitsgrad niedriger als in der Halle starten. Tritt- und Grifftechniken sind hier anders. Häufig fehlen auf den glatten Platten Vorsprünge für die Füße. Expertentipp: per Reibung zwischen Sohle und Fels Halt verschaffen.
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Da die Routen nicht immer geradlinig verlaufen, sollte man das Seil immer entgegen der Kletterrichtung einclippen. Heißt, ich muss vor jedem Einhängen bedenken: Die Karabineröffnung der Expressschlinge sollte immer von der Kletterrichtung wegzeigen. Führt die Route nach links zur Seite, zeigt der Schnapper nach rechts. Ansonsten könnte sich das Seil eventuell bei einem Sturz selbst aushaken.
Anderes Problem: Ist oben am Routenende kein Schnapp- oder Schraubkarabiner vorhanden, um das Seil zum Ablassen zu sichern, müssen Sie "umbauen". Dafür müssen Sie sich zunächst mit 2 Expressen oder einer Bandschlinge in den vorhandenen Umlenk-Haken festmachen. Jetzt das Seil (hinter)sichern am besten mit einem Knoten und einem Extrakarabiner, sich dann ausbinden (immer alles doppelt kontrollieren!), durch die Umlenkung fädeln, sich wieder einbinden, die Seil- und Expressen-Sicherung wieder lösen. Erst dann wird abgelassen. Bei diesem Umbau nimmt der Sichernde den Partner auf keinen Fall aus der Sicherung!
Beim Abseilen und Abbau der Route merke ich, dass ich immer ein wenig hin- und herpendel, um die Expressschlingen zu greifen. "Nutze die Teleferic", ruft Gaspard von unten. Er meint die "Seilbahn"-Technik. Dafür clippe ich eine Expresse zwischen mich und das nach oben führende Seil. So bleibe ich beim Ablassen wie bei einer Seilbahn automatisch immer nahe am Seil dran. Bevor ich die letzte Expresse aushänge, muss ich die Seilbahn aber entfernen, ansonsten könnte ich den Sichernden umreißen.
Der Fels ist rau. Das bekommen auch meine Knie und Beine zu spüren. Heißt: Verletzungen bei Stürzen können schlimmer ausfallen. Auch deswegen gilt: Helm tragen! Haken und Fels werden nicht regelmäßig gewartet oder überprüft. Bedeutet: Inspizieren Sie die Route so gut es geht, ruhen Sie sich zwischendurch an Rastpunkten aus. Auch das schnell wechselnde Wetter in den Bergen kann zur Gefahr werden. Informieren Sie sich vorher genau und planen Sie für den Abstieg immer genug Zeit ein. Plus: Der Fels sollte trocken sein.
Fürs Felsklettern brauchen Sie vor allem einen Kletterführer, entweder als Buch oder Sie informieren sich vorher online. "In Kletterführern finden Sie Topografie und Infos über den Zustieg und Zustand der Route, die Schwierigkeit, die Art der Absicherung, die Länge und eventuelle Gefahren", so der Kletterexperte. Nur so finden Sie die geeignete Route für Ihren Schwierigkeitsgrad. Am Fels selber gibt es keine Ausschilderungen. Dort könnten Sie höchstens andere Kletterer fragen.
Zusätzlich zur Basisausrüstung (Klettergurt, Kletterschuhe, Sicherungsgerät und Chalk-Beutel) brauchen Sie zudem:
Felskletteranfänger sollten auf jedem Fall in einem Klettergarten starten. Auf dieser Seite des Deutschen Alpenvereins finden Sie alle Infos zu Klettergebieten in Deutschland (Anzahl der Routen, die Schwierigkeit und die Länge).
Beliebte Spots für Einsteiger sind zum Beispiel:
In Deutschland:
In Österreich:
In Italien:
Zumindest sollten Sie mit einem erfahrenen Kletterer unterwegs sein, der Ihnen alle erforderlichen Techniken beibringen kann und Sie coacht. Oder Sie besuchen einen Workshop direkt in den Bergen, wie bei der Arc’teryx Alpine Academy.
Bergsport-Workshops bei der Arc’teryx Alpine Academy in ChamonixSeit 7 Jahren findet im Bergsport-Ort Chamonix-Mont-Blanc die Arc’teryx Alpine Academy statt. Dort gibt es Kurse und Workshops mit Bergsteigern, Bergführern und Profi-Athleten. Anfänger und Fortgeschrittene können an einem langen Wochenende im Sommer ihr Bergsport-Können verbessern. Schulungen in kleinen Gruppen gibt es vom Trailrunning, Gletscherwandern, Bouldern, Felsklettern bis zum Eisklettern. Weitere Infos: chamonix.arcteryxacademy.com |
Am Nachmittag habe ich bereits meine erste Mehrseillänge (man erklettert eine Wand in mehreren Abschnitten und holt den Sichernden "nach") absolviert und muss mich alleine abseilen. Ich frage Gaspard, ob ich alles richtig gemacht habe. Er nickt. Am nächsten Sicherungspunkt angekommen ziehe ich das Seil raus – und es bleibt irgendwo über mir hängen. Mist. Also mit einem anderen Seil noch mal rauf. Felsklettern ist eben anders. In der Halle geht es um Schwierigkeitsgrade und Leistung, draußen um das Erlebnis, das Abenteuer – und das macht vor allem Spaß! Als ich mit meinem Gepäck zu Fuß zurück ins Dorf gehe, ist es kurz vor 16 Uhr. Auf die Gletscher der Aiguille du Midi fährt gerade die letzte Gondel. Mit dieser Aussicht und der Sonne im Rücken bin ich mir sicher, dass ich nicht das letzte Mal am "echten" Fels geklettert bin.